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Wahn - Duma Key

Titel: Wahn - Duma Key Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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hätte schwören können, dass meine Eingeweide eine Handbreit absackten. Dabei war das nicht einmal das Schlimmste. Dieses halb juckende, halb schmerzhafte Kribbeln lief meine rechte Körperseite und den fehlenden Arm hoch und runter. Ich sagte mir, solche Reaktionen - nichts anderes als drei Tage zu früh einsetzende Versagensangst - seien lächerlich. Schließlichhatte ich einmal vor dem Stadtrat von St. Paul, in dem damals ein Mann saß, der später Gouverneur von Minnesota wurde, für ein Hundertmillionendollarprojekt geworben. Und ich hatte, was noch beängstigender gewesen war, zwei Töchter durch ihre ersten Ballettauftritte, Cheerleaderproben, Fahrstunden und die Hölle der Adoleszenz begleitet. Was war verglichen damit schon dabei, einem Galeriemenschen ein paar meiner Bilder zu zeigen?
    Trotzdem ging ich mit bleiernen Füßen ins Little Pink hinauf.
    Die untergehende Sonne überflutete den großen Raum mit einem prachtvollen, unwahrscheinlichen orangeroten Licht, aber ich fühlte keinen Drang, auch nur zu versuchen, es festzuhalten - nicht heute Abend. Dennoch appellierte dieses Licht an mich. Wie das Foto einer längst vergangenen Liebe, auf das man in einer alten Schachtel mit Souvenirs zufällig stößt, an einen appellieren kann. Und die Flut war hereingekommen. Selbst im ersten Stock konnte ich das Gemurmel der Muscheln hören. Ich setzte mich und begann in dem Durcheinander aus Fundstücken auf meinem Ramschtisch zu stochern - eine Vogelfeder, ein glatt geschliffener Kiesel, ein farblos grau gewordenes Wegwerffeuerzeug. Nein, ich dachte nicht an Emily Dickinson, sondern an einen alten Folksong: Don’t the sun look good, Mama, shinin through the trees? Dort draußen gab es natürlich keine Bäume, aber ich konnte einen auf den Horizont stellen, wenn ich wollte. Ich konnte einen hinstellen, damit der rote Sonnenuntergang hindurchschien. Hallo, Dalí.
    Ich fürchtete nicht, mir anhören zu müssen, ich hätte kein Talent. Ich fürchtete, Signor Nannuzzi würde mir erklären, ich hätte ein weenig Talent. Er würde Daumen und Zeigefinger bis auf einen halben Zentimeter aufeinander zubewegen, um zu demonstrieren, wie weenig er meinte. Er würde mir raten, an den Sidewalk Art Festivals in Venice teilzunehmen, wo ich bestimmt Erfolg haben würde, weil meine reizenden Dalí-Imitationen sicher vielen Touristen gefallen würden.
    Und wenn er das tat und Daumen und Zeigefinger bis auf einen halben Zentimeter aufeinander zubewegte und weenig sagte, was würde ich dann tun? Konnte das Urteil irgendeines Fremden mein neues Selbstbewusstsein zerstören, mir meine ganz spezielle neue Freude rauben?
    »Vielleicht«, sagte ich.
    Ja.Weil Bilder zu malen etwas anderes war, als Einkaufszentren zu errichten. Am leichtesten wäre es gewesen, den Termin einfach abzusagen... aber ich hatte es Ilse versprochen, und es gehörte nicht zu meinen Gewohnheiten, meinen Kindern gegenüber Versprechen zu brechen.
    Mein rechter Arm juckte noch immer, fast so, dass es wehtat, aber ich achtete kaum darauf. An der Wand links von mir standen acht oder neun Leinwände. Ich wandte mich ihnen zu, weil ich dachte, ich würde zu entscheiden versuchen, welche die besten waren, aber ich warf nicht einmal einen Blick auf sie.
    Oben an der Treppe stand Tom Riley. Er war nackt bis auf eine hellblaue Schlafanzughose, dunkler im Schritt und auf der Innenseite eines Beins, wo er sich nass gemacht hatte. Sein rechtes Auge war weg.Wo es gewesen war, gähnte jetzt eine mit geronnenem Blut dunkelrot und schwarz verklebte Augenhöhle. Streifen von angetrocknetem Blut zogen sich wie eine Kriegsbemalung über die rechte Schläfe und verschwanden in den ergrauenden Haaren über seinem Ohr. Sein anderes Auge starrte auf den Golf von Mexiko hinaus. Der Sonnenuntergang überzog sein schmales, blasses Gesicht mit Karnevalsfarben.
    Vor Schock und Entsetzen kreischte ich laut, wich zurück und fiel vom Stuhl. Ich knallte auf meine schlimme Hüfte und schrie erneut auf - diesmal vor Schmerzen. Mein Fuß zuckte, traf den Stuhl, auf dem ich gesessen hatte, und warf ihn um. Als ich wieder zur Treppe hinübersah, war Tom verschwunden.
     
     
     
     
     
     
    VI Zehn Minuten später war ich unten und wählte seine Privatnummer. Die Treppe vom Little Pink herunter hatte ich sitzend bewältigt, war auf dem Arsch über eine Stufe nach der anderen runtergepoltert. Nicht weil meine Hüfte nach dem Sturz vom Stuhl schmerzte, sondern weil meine Beine so stark zitterten, dass

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