Wahn - Duma Key
Über seinen Schreibtisch hinweg ergriff er meine Hand - die, mit der ich malte, die einzige, die ich noch besaß.
»Mr. Freemantle, das ehrt mich, aber der Signor unserer Familie ist mein Vater Augustino. Ich bin damit zufrieden, ein schlichter Mister zu sein. Was Ihre Gemälde betrifft … ja, sie sind gut. Berücksichtigt man, seit wann Sie überhaupt erst malen, sind sie in der Tat sehr gut. Vielleicht mehr als das.«
»Was macht sie gut?«, fragte ich. »Wenn sie gut sind, was macht sie gut?«
»Wahrheit«, sagte er. »Sie leuchtet aus jedem Pinselstrich.«
»Aber die meisten zeigen nur Sonnenuntergänge! Die Dinge, die ich dazugemalt habe...« Ich hob meine Hand, ließ sie wieder sinken. »Das sind nur Spielereien.«
Nannuzzi lachte. »Wo haben Sie solche hässlichen Wörter her? Aus dem Feuilleton der New York Times? Aus einer Sendung mit Bill O’Reilly? Von beidem?« Er zeigte auf die Decke. »Leuchtstoffröhre? Spielerei!« Er deutete auf die eigene Brust. »Herzschrittmacher? Spielerei!« Er warf seine Hände hoch. Der Glückspilz hatte noch zwei zum Werfen. »Vergessen Sie Ihre hässlichen Wörter, Mr. Freemantle. Die Kunst sollte ein Ort der Hoffnung sein, nicht des Zweifels. Und Ihre Zweifel entstehen aus Unerfahrenheit, deren Sie sich nicht schämen müssen. Hören Sie also zu. Wollen Sie mir zuhören?«
»Sicher«, sagte ich. »Deshalb bin ich hier.«
»Wenn ich Wahrheit sage, meine ich Schönheit.«
»John Keats«, sagte Wireman. »›Ode an eine griechische Urne‹.« Das ist alles, was wir auf Erden wissen, und alles, was es zu wissen gibt. »Alt, aber noch immer gut.«
Nannuzzi beachtete ihn nicht. Er beugte sich über seinen Schreibtisch und sah mir ins Gesicht. »Für mich, Mr. Freemantle...«
»Edgar.«
»Für mich, Edgar, fasst das zusammen, was alle Kunst bewirken und wonach sie beurteilt werden kann.«
Er lächelte - ein bisschen defensiv, wie ich fand.
»Ich möchte nicht zu viel über Kunst nachdenken, wissen Sie. Ich will sie nicht kritisieren. Ich will nicht an Symposien teilnehmen, mir Vorträge anhören oder auf Cocktailpartys darüber diskutieren - obwohl sich das in meinem Beruf manchmal nicht vermeiden lässt.Was ich tun möchte, ist etwas anderes: mir ans Herz greifen und auf die Knie fallen, wenn ich sie sehe.«
Wireman brach in Gelächter aus, lachte schallend laut und warf die Hände hoch. »Lobet den Herrn!«, rief er aus.
»Ich weiß nicht, ob der Kerl da draußen sich ans Herz greifen und niederknien wollte, aber ganz sicher war er bereit, nach seinem Scheckbuch zu greifen.«
Nannuzzi sagte: »In seinem Innersten ist er auf die Knie gesunken, denke ich. Ich glaube, das sind sie alle.«
»Ich übrigens auch«, sagte Wireman, der nun nicht mehr lächelte.
Nannuzzi konzentrierte sich weiter auf mich. »Reden wir also nicht mehr von Spielereien. Worauf Sie es bei den meisten dieser Gemälde angelegt haben, ist auf den ersten Blick erkennbar: Sie suchen einen Weg, das beliebteste und abgedroschenste Florida-Motiv - den tropischen Sonnenuntergang - neu zu erfinden. Einen neuen Weg vorbei am Klischee.«
»Ja, das stimmt so ziemlich. Also habe ich Dalí kopiert und...«
Nannuzzi winkte ab. »Die Bilder da draußen haben nicht das Geringste mit Dalí gemeinsam. Ich habe nicht vor, mit Ihnen über Kunstrichtungen zu diskutieren, Edgar, oder Wörter zu gebrauchen, die mit -ismus enden. Sie gehören keiner bestimmten Schule an, weil Sie keine kennen .«
»Ich kenne mich mit Gebäuden aus«, sagte ich.
»Wieso malen Sie dann keine Gebäude?«
Ich zuckte mit den Schultern. Ich hätte ihm erklären können, dass ich noch nie auf diese Idee gekommen sei, aber um bei der Wahrheit zu bleiben, hätte ich sagen müssen, mein fehlender Arm sei nie darauf gekommen.
»Mary hatte recht. Ihre Kunst hat etwas Naives. Daran ist nichts auszusetzen. Grandma Moses war ebenfalls eine Vertreterin der naiven Kunst. Jackson Pollock ebenfalls. Entscheidend ist, Edgar, dass Sie Talent haben.«
Ich öffnete den Mund. Machte ihn wieder zu. Ich wusste einfach nicht, was ich sagen sollte. Wireman kam mir zu Hilfe.
»Bedank dich bei dem Mann, Edgar«, sagte er.
»Danke«, murmelte ich.
»Sehr gern geschehen. Und falls Sie ausstellen wollen , Edgar, kommen Sie bitte zuerst zu uns. Ich biete Ihnen von allen Galerien an der Palm Avenue die besten Konditionen. Das verspreche ich Ihnen.«
»Soll das ein Witz sein? Natürlich komme ich als Erstes hierher.«
»Und natürlich prüfe ich den
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