Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Wahn - Duma Key

Titel: Wahn - Duma Key Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
Vom Netzwerk:
Edgar, würde ich mir für die Galeriesache mehr als nur eine Nacht Zeit lassen. Und inzwischen weitermalen. Du warst fleißig wie eine Biene, aber ich bezweifle, dass du schon genügend Bilder hast, um...«
    Hinter ihm ragte ein gekachelter Pfeiler auf. Wireman torkelte rückwärts dagegen. Wäre der Pfeiler nicht gewesen, wäre er garantiert zu Boden gegangen. Obwohl die Wirkung des Bourbons etwas abgeklungen war, registrierte mein übersteigertes Wahrnehmungsvermögen, was mit seinen Augen geschah, als er das Gleichgewicht verlor. Das rechte sah nach unten, als wollte es seine Schuhe kontrollieren, und das tränende linke Auge drehte sich nach oben, bis die Iris nur noch als schmale Sichel zu sehen war. Ich hatte noch Zeit, mir zu überlegen, dass dies eigentlich unmöglich war, weil Augen sich nicht in entgegengesetzte Richtungen verdrehen konnten. Und auf Leute, die gesund waren, traf das wohl auch zu. Dann sackte Wireman zusammen.
    Ich packte ihn. »Wireman? Wireman! «
    Er schüttelte den Kopf, dann sah er mich an. Augen geradeaus und vollzählig vorhanden. Das linke glänzte feucht und war blutunterlaufen, das war alles. Er zog sein Taschentuch heraus und wischte sich die Wange ab. Dann lachte er. »Ich habe gehört, dass man andere mit langweiligem Gequatsche in den Schlaf reden kann, aber sich selbst? Zum Totlachen!«
    »Du bist nicht eingenickt. Du bist... ich weiß nicht, was los war.«
    »Red kein Onnsinn, Kumbel«, sagte Wireman.
    »Nein, du hast die Augen so komisch verdreht.«
    »Das nennt man einschlafen, muchacho .« Er bedachte mich mit seinem patentierten Wireman-Blick: Kopf leicht schief gelegt, Augenbrauen hochgezogen, ein angedeutetes Lächeln um die Mundwinkel.Aber ich spürte, dass er genau wusste, wovon ich sprach.
    »Ich muss zum Arzt, mich durchchecken lassen«, sagte ich. »Eine Kernspintomografie machen lassen. Das habe ich meinem Freund Kamen versprochen. Was hältst du davon, wenn ich dich mit anmelde?«
    Wireman lehnte noch immer an dem Pfeiler. Jetzt richtete er sich auf. »He, da kommt Jack mit dem Van. Das ging ja schnell. Beeil dich, Edgar - der letzte Bus nach Duma Key fährt gleich ab!«
     
     
     
     
     
     
    IX Auf der Rückfahrt passierte es erneut, sogar schlimmer, obwohl Jack nichts sah - er war damit beschäftigt, den Van auf der Casey Key Road zu halten - und Wireman selbst vermutlich nichts davon mitbekam. Ich hatte Jack gefragt, ob es ihm etwas ausmache, nicht den Tamiami Trail, die gewinnend schäbige Main Street von Floridas Westküste, zu nehmen, sondern diese schmale, kurvenreiche Straße zu fahren. Ich wolle den Mond auf dem Wasser sehen, sagte ich.
    »Du legst dir kleine Künstlerallüren zu, muchacho «, sagte Wireman vom Rücksitz aus, auf dem er mit hochgelegten Beinen hingelümmelt saß. Von Sicherheitsgurten schien er nicht viel zu halten. »Wahrscheinlich trägst du demnächst ein Béret.« Er sprach es so aus, dass es sich auf Gefrett reimte.
    »Fuck you, Wireman.«
    »I been fucked to the east and I been fucked to the west«, rezitierte Wireman im Tonfall sentimentaler Erinnerung, »but when it comes to the fuckin, yo mamma’s the best.« Damit verfiel er in Schweigen.
    Ich beobachtete den Mond, der weiter durch das schwarze Wasser rechts von mir schwamm. Er war geradezu hypnotisch. Ich fragte mich, ob es möglich sein würde, ihn so zu malen, wie er von dem Van aus erschien: ein Mond in Bewegung, eine Silberkugel unmittelbar unter der Oberfläche.
    Ich dachte diese Gedanken (und war vielleicht kurz davor, einzunicken), als ich auf eine schemenhafte Bewegung oberhalb des Mondes im Wasser aufmerksam wurde. Das war Wiremans Spiegelbild. Im ersten Moment hatte ich die verrückte Idee, er hole sich dort hinten einen runter, weil seine Schenkel sich zu öffnen und zu schließen, seine Hüften sich zu heben und zu senken schienen. Ich warf Jack einen raschen Blick zu, aber die Casey Key Road ist eine Sinfonie aus Kurven, und der Junge war mit dem Fahren beschäftigt. Außerdem saß Wireman größtenteils hinter Jacks Sitz, weshalb er im Innenspiegel nicht zu sehen war.
    Ich blickte über die linke Schulter. Wireman masturbierte nicht. Auch schlief oder träumte Wireman nicht. Wireman hatte einen Anfall. Er war unauffällig, vermutlich ein kleiner Petit Mal -Anfall, aber eindeutig ein Anfall; im ersten Jahrzehnt der Freemantle Company hatte ich einen technischen Zeichner beschäftigt, der Epileptiker war, und erkannte deshalb einen Anfall, wenn ich einen sah.

Weitere Kostenlose Bücher