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Wahn

Wahn

Titel: Wahn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christof Kessler
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oh, oh«.
    »Er hat eine Aphasie«, sagte der diensthabende Arzt. »Das heißt, er kann Sie nicht verstehen und er kann seine Gedanken nicht in Worte fassen. Sein rechtes Bein hat allerdings an Kraft zugenommen und auch in die rechte Hand kommt etwas Funktion zurück.«
    Susanne starrte auf den Kranken. »Es ist so schrecklich, so schrecklich«, heulte sie los.
    Am nächsten Tag traf sich Susanne mit Gudrun im Café am Markt. Nachdem sie alles berichtet hatte, blickte sie Gudrun eindringlich an. »Das war doch alles Quatsch, was wir da gemacht haben, ich schlage vor, dass wir alles rückgängig machen, du kannst ihn wieder zurückhaben.«
    Gudrun lachte auf. »Was stellst du dir denn vor? Henrik und ich sind glücklich, da ist nichts rückgängig zu machen. Das mit Robert tut mir leid, aber wir können nichts rückgängig machen.«
    »Ich hasse dich, ich hasse Robert«, zischte Susanne.
    Nach seinem Aufenthalt in unserer Neurologischen Klinik wurde Robert in ein Rehabilitationszentrum überwiesen. Dort lernte er wieder zu gehen, seine rechte Hand, wenn auch mit Einschränkungen, zu benutzen, und erhielt drei Mal am Tag Sprachunterricht. Leider war das Sprachzentrum zu stark geschädigt, so dass er nie wieder richtig sprechen lernen würde, er verstand jedoch alles Gesagte sehr gut. Nach drei Monaten wurde er entlassen. Susanne hatte zu verstehen gegeben, dass er nicht zu ihr zurückkehren könne. Obwohl er erst zweiundvierzig Jahre alt war, wurde ihm auf Grund seiner Pflegebedürftigkeit ein Zimmer in einem Heim für altersgerechtes Wohnen besorgt. Dort wurde er dreimal am Tag mit Mahlzeiten versorgt und konnte fernsehen, so viel er wollte.
    Einige Wochen später aß ich zum Frühstück mein Müsli und blätterte dabei die örtliche Tageszeitung durch. Ich hatte es mir zur Angewohnheit gemacht, die Todesanzeigen zu lesen, auch um mich zu informieren, wer von meinen Patienten unsere Welt verlassen hatte. Dabei stieß ich auf folgende Anzeige: »Robert Degen 1967 – 2009. Ein wunderbarer Mensch hat uns nach schwerer Krankheit verlassen. Gudrun Degen und die Kinder Alexander und Nele.« Eine Zeile tiefer: »Susanne und Henrik Gutwind mit Kindern.«
    Eines Tages war Robert mit seinem Rollstuhl zu der Überführung am Bahnhof gefahren. Mühsam war er zum Geländer gehumpelt und hatte sich darübergewuchtet, vor allem sein gelähmtes rechtes Bein bereitete ihm dabei Schwierigkeiten. Als der Intercity aus Berlin herbeiraste, hatte er das Geländer losgelassen.

MANN OHNE GESICHT
    Es war hochsommerlich heiß. Selbst von der kühlenden Brise, die normalerweise von der Ostsee kommend dafür sorgte, dass die Sommertage einigermaßen erträglich blieben, war in diesem Jahr nichts zu spüren. Um uns vor der grellen Sonne zu schützen, hatten wir in der Klinik die Jalousien heruntergelassen. Trotzdem fanden die weißen Lichtstreifen ihren Weg in die Büros und Untersuchungsräume, so dass die Texte auf den Monitoren nur noch blass und schlecht lesbar waren.
    »Es kommt noch eine Frau Professor Pfeiffer«, sagte meine Sekretärin. »Sie verbringt gerade ihren Urlaub auf Usedom und wollte unbedingt einen Termin bei Ihnen. ›Für eine zweite Meinung‹, wie sie sagte.«
    Kurze Zeit später betrat eine attraktive Mittvierzigerin mit dichtem braunen Haar und strahlend blauen Augen mein Zimmer. Sie trug ein sommerliches türkisfarbenes T-Shirt und eine weite Pumphose, was ihr einen orientalischen Anstrich verlieh.
    »Ich bin Hannah Pfeiffer«, begrüßte sie mich mit einem festen Händedruck.
    Sie lehrte an der Universität Lüneburg Medienwissenschaften und hatte sich gemeinsam mit ihrem Freund für zwei Wochen im Ostseebad Zinnowitz einquartiert.
    »Eigentlich wollte ich gar nicht zu Ihnen kommen, aber Daniel bestand darauf, dass ich mich einmal von einem neutralen Neurologen untersuchen lasse. Ich scheue mich, das in Lüneburg oder Hamburg machen zu lassen, denn ich bin ziemlich bekannt in meinem Fach, und jedes Gerücht, ich hätte eine ›Hirnkrankheit‹, wäre für mein berufliches Fortkommen mit Sicherheit von Nachteil.«
    »Womit kann ich Ihnen also helfen?«, fragte ich erwartungsvoll.
    »Ich kann mir Gesichter nicht merken, und zwar schon seit meiner Kindheit. Jetzt sitze ich Ihnen gegenüber, aber wenn wir uns morgen in einer Einkaufspassage treffen würden, könnte ich mich nicht mehr an Ihr Gesicht erinnern, ich würde Sie schlichtweg nicht erkennen. Das hat nichts mit Oberflächlichkeit oder Desinteresse zu tun, ich

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