Wahn
untersuchen, und wenn Sie wollen, veranlasse ich eine Magnetresonanztomographie und wir schauen uns Ihr Gehirn einmal ganz genau an«, sagte ich und fügte hinzu: »Aber erwarten, oder besser: befürchten Sie nicht zuviel, Sie haben ja keinen Schlaganfall gehabt, und ein Hirntumor als Ursache der Prosopagnosie ist auch unwahrscheinlich, da Sie ja diese Eigenart schon seit Ihrer Kindheit haben. Es gibt auch angeborene Formen, wahrscheinlich liegt so etwas bei Ihnen vor.«
»Ich weiß, ich habe das alles gelesen, aber vielleicht drückt etwas auf mein Gehirn, eine Zyste oder etwas Anderes, was man beheben könnte, und dann wäre ich diese ganze Sache los. Eines können Sie mir glauben, es ist eine Last, mit so einer Schwäche zu leben, es sind schon viele außerordentlich peinliche Situationen entstanden, und auch gefährliche. Ich bin vor einiger Zeit durch die Prosopagnosie in eine echt kritische Situation geraten, das möchte ich nicht noch einmal erleben.«
»Ich untersuche Sie erst einmal neurologisch, dann vereinbart mein Sekretariat einen MRT-Termin. Für diese Untersuchung müssen Sie noch einmal hierher kommen, danach besprechen wir die Ergebnisse.«
Ich schaute auf die Uhr. Da ich keine weiteren Termine mehr hatte, blieb noch etwas Zeit. Weil Frau Pfeiffer eine gefährliche Situation erwähnt hatte, sagte ich ihr, dass ich mich für spannende Geschichten, die Patienten mit neurologischen Erkrankungen erleben, interessiere; wenn sie Lust habe, könne sie mir von der gefährlichen Situation erzählen, in die sie durch die Prosopagnosie geraten war.
Seit dem Erlebnis waren schon mehr als zwei Jahre vergangen. Hannah Pfeiffer war zu diesem Zeitpunkt noch Single. Mit einer Bekannten besuchte sie eines Abends in einer kleinen Galerie die Vernissage eines Berliner Malers. Die ausgestellten großen düsteren Bilder sprachen sie nicht besonders an, aber sie genoss es, einmal abzuschalten und sich entspannt mit Freunden und Bekannten zu unterhalten. Mit einem ihr fremden Mann kam sie besonders intensiv ins Gespräch. Er war mittelgroß, gepflegt und sah gut aus. Außerdem war er sehr charmant und umwarb sie regelrecht. Nach und nach entwickelte sich ein spielerischer Flirt, an dem beide ihren Spaß hatten.
Mitten im Gespräch lächelte Hannah ihr Gegenüber an und sagte, dass sie sich ein Glas Wein holen wolle. Sie ging zunächst zur Toilette, dann zu dem Tisch, auf dem die Getränke aufgebaut waren, und gut gelaunt in die Richtung, in der sie ihren Gesprächspartner vermutete. Wie es der aktuellen Mode unter progressiven Galeriebesuchern entspricht, waren fast alle Männer komplett in Schwarz gekleidet, schwarze Hose, dunkles Sakko, dunkles Hemd. Sie war nicht in der Lage, sie voneinander zu unterscheiden. Alle Gesichter sahen gleich aus, an keines konnte sie sich richtig erinnern.
Dort stand ihre Bekannte mit dem langen blonden Haar und dem malvenfarbenen Kostüm, daneben der Galerist, Herr Weiss, der stets einen feierlichen grauen Gehrock mit Einstecktuch trug. Er war gerade mit dem Künstler im Gespräch, einem älteren Herrn mit Glatze und übertrieben großer weißer Brille. Daneben stand Isolde Münzer, die Vorsitzende des Kunstvereins, die immer einen breitkrempigen Hut mit Boa trug, stets verkleidet wie ein Kind beim Fasching. Auf diese Weise konnte sie anhand von typischen Merkmalen über die Hälfte der Anwesenden identifizieren. Aber die andere Hälfte bereitete ihr ernsthaft Probleme.
Vor allem war es ihr in diesem Moment völlig unmöglich, ihren Flirtpartner aus der Masse dunkel gekleideter Kunstfreunde herauszupicken. Also stellte sie sich zu ihrer Freundin, die sich angeregt mit dem depressiv wirkenden Künstler unterhielt, und dachte: »Er wird schon kommen.« Er kam jedoch nicht. Zunächst schaute sie sich ab und zu hilflos um, hoffte auf das Aufblitzen von Erkennen in einem dieser uniformen Gesichter, dann vergaß sie den Mann und amüsierte sich den Rest des Abends sehr gut. Später beschloss sie mit einer Runde von Bekannten, noch beim Italiener zum Essen einzukehren.
Am Samstag darauf stand Hannah in einem Supermarkt an der Fleischtheke, als sich ein sportlich gekleideter Mann neben sie stellte und in Richtung Verkäuferin zwei argentinische Steaks bestellte.
»Moment mal«, sagte sie missmutig, »ich bin an der Reihe.« Er schaute sie lächelnd an und erwiderte: »Das ist mir durchaus bewusst, aber ich dachte, ich hätte bei Ihnen noch etwas gut. Außerdem ist das meine Standardmethode,
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