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Wahn

Wahn

Titel: Wahn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christof Kessler
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habe einfach keine Möglichkeit, mir das Muster eines Gesichtes zu merken. Ansonsten verfüge ich über ein völlig normales Gedächtnis; Vokabeln und Gedichte konnte ich als Schülerin in Windeseile auswendig lernen. Es ist einfach nur die Unfähigkeit, Gesichter zu erkennen.«
    Ich holte gerade Luft, um ihr zu erläutern, wie man in der Neurologie ein solches Unvermögen, Gesichter zu erkennen, nennt, als mir Frau Pfeiffer zuvorkam: »Ich habe natürlich im Internet nachgeschaut, bei mir besteht eine Gesichtsblindheit, oder auf Latein ›Prosopagnosie‹. Beim Menschen laufen die meisten sozialen Kontakte über das Gesichterwiedererkennen, wie beim Hund über den Geruch. Stellen Sie sich einmal vor, Ihr Dackel könnte nicht mehr riechen. Das wäre doch für ihn schrecklich.« Sie breitete ihre Arme aus und rief aus: »Manchmal komme ich mir vor wie ein Dackel ohne Geruchssinn!«
    Dann fuhr sie sachlich fort: »Ich kann gut mit dieser Schwäche umgehen, ich muss mir eben bei einem Menschen andere Merkmale merken. Bei Ihnen zum Beispiel Ihr Schildchen auf dem Kittel, mit Ihrem Namen und der Aufschrift ›Universitätsklinikum‹. Aber wie gesagt, in der Einkaufspassage hätten Sie ja Ihren Kittel nicht an – wenn Sie nicht gerade dienstlich dort wären –, und dann hätte ich es schwer, Sie wiederzuerkennen. Da habe ich schon schreckliche Dinge erlebt. Ich habe ab und zu sogar Schwierigkeiten, meinen Freund wiederzuerkennen, wenn er zum Beispiel in einem ungewohnten Outfit in fremder Umgebung auftaucht. Um es für mich leichter zu machen, hat er sich extra einen Schnurrbart wachsen lassen. Mein Freund will unbedingt, dass ich diesen Mangel abklären lasse, er macht sich Sorgen, dass ich irgendeine mysteriöse Erkrankung haben könnte. Deshalb bin ich hier. Eigentlich habe ich, als mir klar wurde, dass ich diese ›Schwäche‹ habe, selber die Diagnose gestellt und mich dahingehend informiert, dass es sich um eine harmlose Variante handelt und dass es keine Möglichkeit gibt, diese zu behandeln. Ich bin aber noch nie neurologisch untersucht worden, das möchte ich jetzt bei Ihnen nachholen, auch wenn es mich einen Urlaubstag kostet.«
    Eine Patientin mit Prosopagnosie kommt auch einem klinisch tätigen Neurologen nicht jeden Tag unter. Ich erinnerte mich vage an eine einzige Patientin, die vor mehreren Jahren in unserer Klinik behandelt worden war, bei der wir diese Diagnose gestellt hatten. Es handelte sich um eine ältere Dame, die wegen eines Schlaganfalls zu uns gekommen war. Der Schlaganfall hatte einen Teil des Schläfenlappens ihrer rechten Hirnhälfte zerstört, und zwar exakt die Hirnwindung, die zwischen dem Gedächtnisspeicher Hippocampus und der Sehrinde liegt.
    In der Sehrinde werden die Impulse unserer optischen Sinneseindrücke abgespeichert und weiterverarbeitet. Der Hirnteil, der zwischen Sehzentrum und Gedächtniszentrum liegt, wird »Gyrus fusiformis«, spindelförmige Hirnwindung, genannt und dient ausschließlich dem Gesichtererkennen. Das macht entwicklungsgeschichtlich ja auch Sinn: Man stelle sich eine Steinzeitfamilie in ihrer Höhle vor, die gerade die Überreste eines erlegten Bisons verzehrt. Jemand schaut in die Höhle hinein, und es muss in Bruchteilen von Sekunden entschieden werden: Freund oder Feind? Hieb mit der Keule oder Einladung zum Mahl?
    Diese Entscheidungen treffen wir täglich, zum Beispiel, wenn wir durch eine Fußgängerzone flanieren und bekannte Personen grüßen, aber an Fremden vorbeigehen. Wir haben also die Möglichkeit, uns an eine riesige Anzahl von Gesichtern zu erinnern und sie zu unterscheiden: dies ist die Leistung einer kleinen Hirnwindung, des Gyrus fusiformis.
    Bei der alten Dame, an die ich mich als eindrucksvollen Fall einer Prosopagnosie erinnern konnte, war der rechtsseitige Gyrus fusiformis komplett zerstört. Wir bemerkten diesen Umstand dadurch, dass sie während der Visite die Namen der Ärzte durcheinanderbrachte, was zunächst als Verwirrtheit gedeutet wurde. Ihre Tochter erkannte sie zwar, aber vorwiegend an ihrer Stimme oder weil sie ein charakteristisches Schmuckstück trug. Als wir es genau wissen wollten, zogen wir der Tochter, bevor sie das Zimmer betrat, einen Arztkittel an. Die Patientin schaute ihrer Tochter, mit der sie zusammenlebte, ins Gesicht und sagte: »Guten Tag, Frau Doktor.« Ihr war die Fähigkeit, Gesichter zu unterscheiden, abhandengekommen.
    »Ich werde Ihre Schwäche, Gesichter zu erkennen, gerne abklären, ich werde Sie

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