Wahn
ich die Polizei!« Hannah presste von innen ihren Körper mit aller Kraft dagegen. Sie fühlte vor Angst ihr Herz bis unter die Schädeldecke hämmern. Die Situation schien zu eskalieren. Sie schrie laut und gellend, dass es durch das gesamte Treppenhaus schallte: »Hilfe! Überfall!« Endlich ging die Tür der Nachbarwohnung auf, und Herr Benzow, ein Rentner, der früher bei den Elektrizitätswerken gearbeitet hatte und jetzt seine Tage mit Rauchen und Biertrinken verbrachte, fragte: »Gibt es irgendein Problem, Frau Pfeiffer?«
»Ich werde belästigt, rufen Sie die Polizei«, keuchte Hannah – und spürte gleichzeitig, wie in diesem Moment der Druck auf die Tür nachließ. Das Gesicht des Fremden war nur noch eine böse Maske. Er drehte sich um und eilte mit schnellen Schritten die Treppe hinunter.
»Kennen Sie den Herrn?«, fragte Benzow, der aus Solidarität zu Hannah ebenfalls zitterte. – »Nein, ich kenne ihn nicht, oder doch, ich glaube, ich bin ihm einmal flüchtig begegnet.«
»Wenn er Sie bedroht hat, rufen Sie am besten die Polizei; der kann ja jederzeit wiederkommen.«
»Erst muss ich mich beruhigen. Vielen Dank, Herr Benzow, Sie haben mir sehr geholfen.«
Später saß Hannah in ihrem Sessel und zitterte am ganzen Leibe. Sie rührte den Tee nicht an und machte stattdessen eine Flasche Rotwein auf. Mehrmals ging sie zur Haustür, um zu überprüfen, ob sie sicher verschlossen war. Sie hatte Angst. Dann griff sie zum Handy und rief die örtliche Polizeiwache an, um zu schildern, was passiert war.
»Ist der Mann, der Sie bedroht hat, noch irgendwo in Ihrer Nähe?«, fragte der Beamte am Telefon.
»Nein, ich glaube nicht, aber ich habe Angst, dass er wiederkommt.«
»Am besten, Sie kommen morgen im Laufe des Tages auf unsere Wache und geben dort eine Anzeige auf. Vielleicht können Sie ja jemanden anrufen, der sich heute Abend um Sie kümmert.«
Am nächsten Morgen schaute der diensthabende Polizeibeamte Hannah mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Sie können wirklich nicht schildern, wie der Mann ausgesehen hat?«
»Ich sage Ihnen doch, ich habe eine angeborene Schwäche, mir Gesichter zu merken.«
Der Blick des Beamten wurde sehr ernst. Dann stieß er einen Seufzer aus, drehte sich zum Computer und fing an zu tippen, wobei er vor sich hinmurmelte: »Und ich habe eine angeborene Schwäche, unsinnige Protokolle zu schreiben.«
Einige Wochen später parkte Hannah vor dem Fitnessstudio, das sie einmal wöchentlich aufsuchte. Als sie aus ihrem Auto ausgestiegen war, stürzte sich eine dunkle Gestalt auf sie. Sie wurde herumgewirbelt, am Genick gepackt und zwei bis drei Meter in Richtung eines Gebüsches gezerrt. Zunächst konnte sie kein Wort herausbringen, ein greller Schmerz blitzte vom Nacken über ihren Rücken. Dann schrie sie so laut, wie sie nur konnte: »Hilfe, ich werde vergewaltigt! Hilfe!«
Mit einem Mal wurde der feste Griff in ihrem Genick gelockert, und während sie noch keuchend nach Luft rang, sah sie Arne, den Trainer des Fitnesszentrums, der im letzten Jahr Dritter bei den Deutschen Meisterschaften im Kickboxen geworden war. Immer noch am Boden liegend, konnte sie beobachten, wie ihr Retter einer dunkel gekleideten Gestalt mehrere gezielte Hiebe gegen Kopf und Körper versetzte. Dann sah sie Arne auf dem keuchenden Angreifer knien. Hannah richtete sich auf, ihr Genick tat vom eisernen Griff des Angreifers weh, der Hals war steif und sie konnte den Kopf kaum bewegen. Sie beugte sich zum Angreifer, der noch immer von Arnes kräftigem Griff zu Boden gepresst wurde. Sein Gesicht war ihr völlig unbekannt, obwohl es für diesen Umstand neben ihrer Gesichtsblindheit noch einen zweiten Grund geben konnte: es war von den Schlägen des Fitnesstrainers blau angelaufen und zugeschwollen, aus der nicht mehr ganz geraden Nase liefen tiefrote Blutstraßen zum Kinn. Arne holte sein Handy aus der Tasche und verständigte die Polizei. Wie sich später herausstellte, handelte es sich bei dem Mann um einen vierzig Jahre alten Geschäftsmann aus Lübeck, der sporadisch in Lüneburg zu tun hatte. Er wurde wegen Körperverletzung und Nötigung zu einer Geldstrafe verurteilt und erhielt die Auflage, sich von Hannah fernzuhalten.
Als Hannah ihre Geschichte beendet hatte und schwieg, war ich von dem Erzählten sehr beeindruckt. Zwischendurch hatte die Sekretärin mehrmals irritiert ins Zimmer geschaut, wie um zu mahnen, nicht zu viel Zeit mit der Patientin zu verbringen. Ich untersuchte Hannah
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