Wahn
erzähle?«
»Ich halte das für sinnvoll«, antwortete ich.
»Also gut, versuchen wir es.« Sie nahm einen weiteren Schluck vom Krankenhaus-Früchtetee und begann mit ruhiger Stimme folgende Geschichte zu erzählen:
Es war einer dieser harten Winter mit viel Eis und Schnee gewesen. Ende der neunziger Jahre. Obwohl sie sonst immer den Winterurlaub in den Bergen verbracht hatten, zog es sie dieses Mal in die Sonne. Sie und ihr Mann beschlossen, eine Woche auf den Kanarischen Inseln Urlaub zu machen. Ein Nachbar hatte immer von der Insel La Gomera geschwärmt: »Wenn Kanaren im Winter, dann La Gomera, nicht diese betonierten Urlaubersilos, individuellen Tourismus gibt es dort unten nur auf La Gomera.«
Ehe sie sich versahen, saßen ihr Ehemann Klaus-Dieter und sie mitten im heimatlichen Winter bei sommerlichen Temperaturen in La Playa im Valle Gran Rey an der kleinen Strandpromenade, tranken den frisch gepressten Orangensaft und schauten dem munteren Treiben der Einheimischen und meist unkonventionellen Touristen zu. Für sie beide war es der erste Urlaub ohne die Mädchen, die gerade nacheinander Abitur gemacht und das elterliche Haus verlassen hatten. Wie meistens in der letzten Zeit beschäftigte sich jeder mit seinen eigenen Gedanken, nach all den Ehejahren schien ihnen zunehmend der Gesprächsstoff ausgegangen zu sein.
In diesem Moment trat ein hochgewachsener Mann an ihren Tisch. Er war schlank, etwa in ihrem Alter. Sein Gesicht war markant geschnitten, ein Dreitagebart und das graumelierte nach hinten gekämmte Haar verliehen ihm etwas verwegen Intellektuelles. Ob er sich an ihren Tisch setzen dürfe, fragte er. »Ja, natürlich gerne«, sagte sie freundlich lächelnd. Der Mann setzte sich auf den freien Stuhl an ihrem Tisch, bestellte einen Espresso und fing an, intensiv in einem Magazin zu lesen, das er mitgebracht hatte. Sie spürte in sich eine innere Unruhe aufsteigen. An irgendjemanden erinnerte sie dieser Mann. Allmählich wurde ihr klar, dass er sie nicht nur ganz stark an Konrad erinnerte, vielmehr sah dieser Mann, der da ruhig in seiner Zeitung las, so aus, wie sie sich vorstellte, dass Konrad jetzt aussehen würde – wenn er noch leben würde.
Konrad war die große Liebe ihrer jungen Jahre gewesen. Sie hatten sich während des Studiums kennengelernt und praktisch die ganze Zeit miteinander verbracht. Er war ständiger Gast in ihrem Studentenwohnheimzimmer gewesen, und im Sommer hatten sie stets gemeinsam mehrere Wochen in Göhren auf Rügen gezeltet. Um endlich zusammenziehen zu können, planten sie die Heirat. Vorher wollte Konrad noch mit seinen Freunden zwei Wochen in Ungarn verbringen. Da sie sich auf Klausuren vorbereiten wollte, stimmte sie mit einem lachenden und einem weinenden Auge der Männertour zu. Als die Nachricht kam, dass Konrad und seine zwei Freunde im Wartburg seines Vaters auf der Heimfahrt von einem überholenden Lastwagen erfasst worden waren und er sofort tot gewesen war, war eine Welt in ihr zusammengebrochen. Sie hatte lange gebraucht, diesen Verlust zu verwinden. Auch nachdem sie Klaus-Dieter geheiratet und ihre Kinder bekommen hatte, stellte sie sich immer wieder vor, wie ihr Leben verlaufen wäre, wenn Konrad damals nicht nach Ungarn gefahren wäre. Und immer wieder war sie vor dem Gedanken zurückgeschreckt, dass ihr Leben mit Konrad möglicherweise besser verlaufen wäre, interessanter, glücklicher, erfüllter.
Sie saß scheinbar ausgeglichen neben Klaus-Dieter, schaute aufs Meer und fing an, innerlich durchzudrehen. Der Mann rief die Kellnerin herbei, um ein Wasser zu bestellen. Konrad war als Kind, als er verträumt zur Schule eilte, mit seiner rechten Stirnseite gegen einen Laternenpfahl gelaufen. Dabei hatte er sich eine Platzwunde in Verlängerung der Augenbrauen zugezogen, die genäht werden musste. »Hans-guck-in-die-Luft-Narbe«, hatte sie einmal gescherzt.
Sie schaute genau hin. Der Mann hatte zwar ziemlich buschige Augenbrauen, aber sie glaubte trotzdem, eine schmale weißliche Narbe an eben jener Stelle erkennen zu können.
Sie fasste sich ein Herz: »Entschuldigung, darf ich Sie etwas fragen?«
Klaus-Dieter zog missbilligend die Augenbrauen hoch. Er mochte es nicht, im Urlaub Zufallsbekanntschaften zu schließen, er fahre weg, um sich zu erholen, nicht um rumzuquatschen.
»Ja, bitte gerne«, der Mann schaute sie interessiert an.
»Sie erinnern mich ganz stark an jemanden, den ich früher kannte. Heißen Sie zufällig Konrad?«
Seine hellen
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