Wahn
Es liegen heute so viele wichtige Entscheidungen an, da müssen Sie topfit sein.«
»Ich bin topfit«, sagte er energisch. Bloß nicht nach Hause, dachte er bei sich. Der Kaffee tat gut, etwas stark zwar, er merkte sofort, wie sich sein Magen zusammenzog, aber das warme Getränk belebte ihn. Nein, auf gar keinen Fall nach Hause, das war ein noch größerer Horror, als hier im Büro zu sitzen. »Gut dass du da bist, da kannst du ja gleich mal einkaufen gehen«, würde sie sofort sagen. Sie war zwar den ganzen Tag zu Hause, aber sobald er das Haus betrat, fielen ihr tausend Dinge ein, um ihn auf Trab zu halten. Sie konnte es einfach nicht ertragen, ihn nur so dasitzen und sich ausruhen zu sehen.
Er nahm das Fax, das zuoberst lag, in die Hand. »Lagebericht«, stand da, »mehr als 100 jugendliche Gewalttäter belagern das Sonnenblumenhaus, die zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber in Rostock-Lichtenhagen. Der Polizeieinsatz wird durch die applaudierende und offen sympathisierende Bevölkerung massiv gestört. Die Einsatzfahrzeuge kommen gar nicht an den Ort des Geschehens heran, es wird dringend um die Erlaubnis des Ministeriums nachgesucht, Einsatzkräfte aus den umliegenden Landkreisen zur Hilfe rufen zu können.« Gestern waren es die Handtücher, er hatte sie nach dem Abtrocknen nicht glatt genug auf den Halter gehangen. Das Badezimmer sehe aus wie ein Saustall. Und dann das Geschimpfe beim Frühstück. Während er sich nach dem Aufstehen normalerweise ausgeruht und frisch fühlte, war sie ein Morgenmuffel und wachte gerädert und missgelaunt auf. In diesem Zustand regte sie jede Kleinigkeit auf. Zum Beispiel heute Morgen, er hatte wie immer sein Frühstücksei geköpft, als seine Frau angewidert ihr Gesicht verzog, als müsste sie etwas extrem Unappetitliches über sich ergehen lassen: »Kannst du nicht einmal wie ein normaler Mensch essen? Man köpft sein Ei nicht, man klopft es auf: Aber du hast eben keine Kinderstube, du Primitivling.« Als er dann aufstand und fluchtartig das Haus verließ, rief sie ihm noch nach: »Geh nach der Arbeit ruhig wieder in die Kneipe zu deinen Saufkumpanen, glaub bloß nicht, ich rieche nicht die eklige Bierfahne. Das hätte ich wissen müssen, dass ich einen Alkoholiker geheiratet habe.« Er las den Lagebericht noch einmal. Anfordern, klar, das Ministerium musste genehmigen, weil dabei Kosten entstehen würden. Er musste das weiterleiten. Sicher wussten das schon alle, er musste im Vorzimmer des Ministers anrufen. Wie war noch einmal die Telefonnummer, Herrgott, er rief doch mehrmals täglich dort an. Zwei fünf zwei vier? Unter dieser Nummer meldete sich niemand. Zwei fünf, vier zwei? Dezernat Ver- und Entsorgung, nein, das war auch falsch. »Frau Engel, wie war noch die Nummer vom Vorzimmer des Ministers?«
Frau Engel schaute ihn entgeistert an. »Herr Berner, die rufen Sie doch mehrmals täglich an.«
»Ich wollte Sie nur prüfen, war nur ein Scherz.«
Am Ende dieses endlosen Arbeitstages hatte Axel Berner nichts Konkretes unternommen, nichts weitergeleitet. Streng genommen hatte er gar nichts getan, wie schon während der letzten Wochen und Monate. In dem riesigen Apparat des Ministeriums war es bisher noch niemandem aufgefallen, dass er eigentlich nicht mehr in der Lage war, seine Arbeit geordnet auszuführen. Er selbst hatte seine Defizite stets geschickt zu kaschieren gewusst. Heute aber, mit den Rostocker Krawallen, war plötzlich alles anders, er war plötzlich zu einem wichtigen Rädchen im Getriebe der inneren Sicherheit des Landes geworden.
Wie so häufig in der letzten Zeit verpasste er auf dem Nachhauseweg die richtige Kreuzung. »Nach der Bushaltestelle rechts abbiegen«, hatte er sich eingeprägt. Es half nichts, er musste auch heute wenden und ein Stück des Weges zurückfahren. Beim Abschied hatte Frau Engel noch gesagt: »Wenn Sie sich nicht gut fühlen, bleiben Sie doch ein paar Tage zu Hause.« Hatte die eine Ahnung, zu Hause, das war schlimmer als Knast, richtig erholen konnte er sich nur im Büro, unter normalen Bedingungen, wenn alles ruhig lief.
Am nächsten Morgen blätterte er beim Frühstück in der regionalen Zeitung. »Schlimmste Ausschreitungen seit Bestehen der Bundesrepublik. Polizei versagt auf breiter Front. Warum zögert das Ministerium mit der notwendigen Verstärkung?« Er legte die Zeitschrift zur Seite und köpfte wie immer sein tägliches Frühstücksei.
»Was ist denn da bei euch los?«, fragte seine Frau und lehnte sich über
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