Wahn
blauen Augen musterten sie aufmerksam.
»Ja, tatsächlich, mein Vorname ist Konrad, aber ich glaube nicht, dass wir uns jemals begegnet sind.«
»Ist Ihr Nachname Kornthaler, und haben Sie in Greifswald Medizin studiert?«, forschte sie weiter nach.
Er sah sie unvermindert an, dann lächelte er, trank sein Mineralwasser aus, rollte wie in Gedanken die Zeitschrift zusammen, stand auf und sagte freundlich: »Sie werden mich entschuldigen, ich habe einen dringenden Termin. Ich wünsche noch einen schönen Urlaub.« Er stand auf und ging mit großen Schritten um die Ecke, wo er verschwand. Frau Schmitt-Zähringer hatte den starken Impuls aufzuspringen und dem davoneilenden Mann nachzurennen, ihn festzuhalten und »Endlich habe ich dich gefunden!« zu rufen. Aber eine unsichtbare Kraft drückte sie unbarmherzig auf den Korbsessel nieder. Sie konnte nur mit geöffnetem Mund in die Richtung starren, in die der Mann, ihr Konrad, verschwunden war.
»Was ist denn los, geht es dir nicht gut?«, fragte Klaus-Dieter mürrisch. »Wer war der Typ, an wen soll er dich erinnert haben? Ich jedenfalls habe ihn noch nie gesehen.«
Während mir Frau Schmitt-Zähringer dies erzählte, war es draußen vollkommen dunkel geworden, gedämpft drangen die Geräusche der Nachtschwester beim Austeilen der Abendmedikamente in das Krankenzimmer.
»Sie glauben, dass dieser Mann Konrad war?«, fragte ich mit gedämpfter Stimme.
»Ich weiß nicht, was ich glauben soll«, schluchzte Frau Dr. Schmitt-Zähringer, die mit einem Mal klein und gebrechlich wirkte; ganz und gar nicht die souveräne und unternehmungslustige Macherin, die sie sonst immer zu sein vorgab.
Sie schaute mich an: »Glauben Sie, dass meine Anfälle mit diesem Erlebnis zusammenhängen?«
Ich wollte ihren Redefluss nicht unterbrechen und beantwortete ihre Frage zunächst nicht. Sie fuhr fort: »Ich muss immer an den Moment denken, an dem ich aufspringen und ihm nacheilen wollte. Etwas hat mich zurückgehalten, eine unsichtbare Kraft. Ähnlich wie in der Küche, neulich bei meinem letzten Anfall, da hatte ich auch keine Beherrschung über meine Motorik.«
Ich überwies Frau Dr. Schmitt-Zähringer zu einem mir gut bekannten Psychotherapeuten und hoffte, dass in der vertrauenerweckenden Umgebung einer Psychotherapie ihre unerfüllten Sehnsüchte zur Sprache kommen konnten und sie lernen würde, die Realität zu akzeptieren.
Entgegen allen Gepflogenheiten erhielt ich von dem Kollegen keinen abschließenden Bericht, so dass ich die Akte nicht mehr in die Hand nahm und die Patientin aus den Augen verlor.
Erst zwei Jahre später war unter meiner Geschäftspost eine bunte Ansichtskarte, Gomera, Valle Gran Rey. Das Bild eines Sonnenuntergangs mit Palmen: »Sehr geehrter Herr Professor, vielen Dank für alles, es geht mir gut. Dieses Mal konnte ich aufstehen und mein Glück festhalten. Ihre ehemalige Patientin Dr. Schmitt-Zähringer.«
Ich hielt die Karte lange in meinen Händen. Dann nahm ich das Telefon und wählte die Nummer ihrer Praxis. Es meldete sich eine junge Stimme: »Praxis Dr. Bongartz, es spricht Helferin Liane.« »Dr. Bongartz? Ich dachte, ich habe die Nummer von Frau Dr. Schmitt-Zähringer gewählt«, sagte ich etwas verunsichert. »Wissen Sie nicht, dass Frau Doktor ihre Praxis aufgegeben hat?«, fragte die Helferin. »Nein, wo sie jetzt ist und was sie jetzt macht, kann ich Ihnen nicht sagen.«
DEMENZ
Eigentlich hatte Axel Berner schon längst Feierabend. Aber wie so oft verspürte er keine Lust, schon nach Hause zu fahren. Zwar fühlte er sich müde und erschöpft nach einem Zehnstundentag als Abteilungsleiter im Innenministerium, aber der Gedanke an seine stets missgelaunte, immer dicker und rechthaberischer werdende Ehefrau verleidete es ihm, in die Stadtrandsiedlung zu fahren, die Beine auszustrecken und in Ruhe eine Flasche Bier zu trinken.
Stattdessen fuhr er zielstrebig in die Eckkneipe, wo er sich gerne mit den Menschen unterhielt, die er bei seinen vorangegangenen Besuchen kennengelernt hatte.
»Weißt du, was dein Kardinalfehler war, Axel?«, sagte gerade einer seiner Tresenbekanntschaften. »Dass du deine Frau aus dem Westen hinter dir hergeschleppt hast.« Irgendwie tröstete ihn das benebelte Schwadronieren, nur gut, dass hier niemand wusste, dass er höherer Beamter im Ministerium war, das wäre peinlich gewesen.
Als er nach Hause kam, ging es da weiter, wo es am Morgen aufgehört hatte: Vorwürfe und Zankereien. Sobald es, ohne
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