Wahn
ausführlich vom Herzspezialisten untersucht. Das Herz wurde mittels Ultraschall auf seine Beschaffenheit hin überprüft, und es wurde vierundzwanzig Stunden lang ein EKG abgeleitet, um mögliche Herzrhythmusstörungen zu erfassen. Auch dabei war bei ihr keine Ursache für die Anfälle gefunden worden.
Frau Schmitt-Zähringer hatte all diese Untersuchungen geduldig über sich ergehen lassen. Sie beteuerte immer wieder, wie wichtig es für sie sei, die Ursache ihrer Anfälle aufzuklären. Für sie war es tatsächlich von existentieller Bedeutung, da ein Arzt, der Zustände hat, bei denen er die Kontrolle über sich verliert, keine Eingriffe am Patienten vornehmen darf. Außerdem besteht ein Fahrverbot für Anfallpatienten, so dass sie alleine keine Hausbesuche mehr machen dürfte. Erst wenn eine wirksame Behandlung mit Anfallfreiheit erreicht war, wäre es ihr erlaubt, wieder einen PKW zu führen. Eine Behandlung konnte jedoch erst begonnen werden, wenn die Ursache der Anfälle geklärt war.
Ich bat unsere erfahrene Neuropsychologin Frau Dr. Krause, mit der Patientin ein ausführliches Gespräch zu führen, um systematisch die Problemfelder, die zu psychischen Anfällen führen können, zu ergründen. »Die Patientin macht einen ganz stabilen Eindruck, ich habe keinen Anhalt für eine konversionsneurotische Symptomatik gefunden. Wir haben uns zweimal getroffen, aber die Gespräche waren ergebnislos. Es handelt sich um eine gefestigte Persönlichkeit, die nicht zu neurotischen Symptomen neigt«, teilte mir Frau Dr. Krause kurze Zeit später mit.
Die Patientin war bereits eine Woche in unserer Behandlung, ohne dass wir mit der Diagnose weitergekommen waren. Dann hatte ich eines Abends gerade meine Schreibtischarbeit erledigt und wollte eigentlich die Klinik verlassen, als mir eine innere Stimme gebot, doch noch einmal auf die Station zu gehen und nach Frau Dr. Schmitt-Zähringer zu schauen.
Ich klopfte an der Tür ihres Einzelzimmers und trat ein. Sie saß am Tisch neben ihrem Bett, das Licht war gedimmt, auf dem Tisch brannte in einem kleinen Glas ein Teelicht. Sie hatte eine Lesebrille auf der Nase und las in einem schmalen Taschenbuch.
»Guten Abend, ich wollte noch einmal nach Ihnen sehen.«
»Das ist nett von Ihnen, setzen Sie sich doch etwas zu mir«, sagte sie und deutete mit einer einladenden Geste auf den zweiten freien Stuhl im Zimmer.
»Was liest eine Internistin, die gleichzeitig Patientin ist?«, fragte ich.
Sie zeigte mir das Buch. Es war »Die Kunst des Liebens« von Erich Fromm.
Ich erzählte ihr, dass mir seinerzeit unser alter Hausarzt dieses Buch zum Lesen gegeben hatte, als ich ihn mit achtzehn Jahren kurz nach dem Abitur wegen Magenbeschwerden aufsuchte. Die Magenkrämpfe waren aufgrund eines heftigen Liebeskummers aufgetreten, nachdem mich meine langjährige Freundin Knall auf Fall verlassen hatte. Sie legte das Buch zur Seite, sah mich forschend über den Rand ihrer Lesebrille an.
»Hat das Buch Ihnen geholfen?«
»Ja«, antwortete ich, »ich konnte nach der Lektüre dieses Buches ein neues Kapitel in meinem Leben aufschlagen.«
»Na, dann wollen wir hoffen, dass mir das Buch von Erich Fromm genauso nützlich ist, wie es für Sie war«, sagte sie. »Aber Sie haben mich ja auf den Kopf gestellt und nichts gefunden. Ihre Psychologin hat mich ausführlich interviewt und keinen Grund gefunden, warum ich von einem Tag auf den anderen umfallen sollte.«
Das Kerzenlicht erzeugte im Krankenzimmer eine gemütliche Atmosphäre. Ich schaute auf den Schatten. »Ich möchte Ihnen sagen, dass ich nicht glaube, dass Sie epileptische Anfälle haben«, sagte ich. »Obwohl das psychologische Interview kein Ergebnis gebracht hat, bin ich mir nicht sicher, ob es nicht doch eine seelische Ursache für Ihre Anfälle gibt.«
Sie zog verwundert die Augenbrauen hoch: »So, Sie glauben also, ich hätte einen seelischen Kummer. Und wenn ich Ihnen sage, dass dies nicht der Fall ist, dass bei mir alles in Ordnung ist?«
»Dann halte ich es für sehr wahrscheinlich, dass Sie der Kummer, über den Sie nicht sprechen möchten, auch in Zukunft immer weiter zu Boden ziehen wird.«
Frau Schmitt-Zähringer hob mir das Buch, das sie noch immer in den Händen hielt, entgegen: »Sie glauben, dieses Buch hilft gegen meinen Kummer?«
»Das Buch alleine sicher nicht, aber in Verbindung mit einem guten Gespräch, in dem Sie für sich selbst einiges klären könnten.«
»Sie erwarten also, dass ich mehr von mir
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