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Wahn

Wahn

Titel: Wahn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christof Kessler
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zusätzlichen Streit zu provozieren, möglich war, zog er sich in sein Arbeitszimmer zurück, um eine Pfeife zu rauchen und die Zeitung zu lesen. Aber auch das war kein rechter Genuss mehr. Seit geraumer Zeit fiel es ihm bei der Lektüre längerer Artikel zunehmend schwerer, sich auf den Text zu konzentrieren. Immer wieder ertappte er sich dabei, dass seine Gedanken abschweiften und er den Inhalt des Gelesenen gar nicht aufnahm. Nach dem Lesen von ein, zwei Seiten wusste er nicht mehr, was er gelesen hatte, und musste die entsprechende Textstelle wiederholen, langsam und laut vor sich hinmurmelnd. Ähnlich erging es ihm auch im Ministerium. Die riesigen Aktenberge, die sich Tag für Tag vor ihm auftürmten und darauf warteten, durchgearbeitet zu werden, bewältigte er nur sehr langsam anhand umfangreicher Notizen und Exzerpte. Hinzu kam, dass er sich seit einiger Zeit nachts schlaflos in seinem Bett wälzte, um morgens völlig zerschlagen und wenig erholt aufzuwachen. Zum Glück hatte er als Beamter im Ministerium einen ruhigen Job, dachte er häufig.
    Als er jedoch an einem schwülen Augusttag des Jahres 1992 wieder einmal völlig unausgeschlafen und erschöpft sein Büro betrat, herrschte dort schon eine große Aufregung. Im Rostocker Stadtteil Lichtenhagen war es in der Nacht zu ausländerfeindlichen Ausschreitungen gekommen, und die Stimmung heizte sich von Stunde zu Stunde mehr auf. Rechtsradikale Jugendliche warfen unter dem Beifall der Anwohner mit Steinen die Fenster in den unteren Etagen eines Ausländerwohnheims ein und tyrannisierten die ausländischen Bewohner. Der für Polizeieinsätze zuständige Staatssekretär Dr. Hormuth rief die Abteilungsleiter des Schweriner Ministeriums zusammen. »Wir müssen angemessen reagieren, der Minister ist sehr besorgt, es ist eine große Menge an West-Journalisten vor Ort. Einerseits müssen wir die Randalierer im Zaum halten und dafür sorgen, dass niemand an Leib und Leben Schaden nimmt, andererseits dürfen wir die Bevölkerung nicht vor den Kopf stoßen.«
    Axel Berner bekam den Teilbereich »Kommunikation und Logistik« zugewiesen, das heißt, er war für die Kommunikation zwischen den einzelnen Abteilungen und für die Versorgung der Beamten vor Ort mit Ausrüstung und Verpflegung zuständig.
    Nach der Besprechung setzte er sich an seinen Schreibtisch und saß zunächst ganz still da. Er fühlte sich leer, wie ausgelöscht. Mühsam versuchte er, sich innerlich zu sammeln, sich zu konzentrieren und an die Arbeit zu gehen. Ihn erfasste eine unstillbare Lust, an einem anderen Ort zu sein, weit weg, irgendwo, nur nicht hier, in diesem Büro, in dem er funktionieren und sich anstrengen musste. Er sortierte die Papiere, die vor ihm lagen. Das Faxgerät spuckte einen Bericht nach dem anderen aus, die seine Sekretärin Frau Engel ihm in den Eingangskorb legte.
    »Herr Berner, ist Ihnen nicht gut?«, fragte sie besorgt. »Ich glaube, Sie müssten jetzt mit den Einsatzgruppen Kontakt aufnehmen, die wissen gar nicht so richtig, was los ist.«
    »Ja, ja«, murmelte Berner unkonzentriert. »Geht gleich los.«
    Dann summte das Telefon. »Hier Georg Mirus. Wir müssen die Mannschaften verstärken, hier ist der Teufel los. Die Chaoten haben schon unsere Leute angegriffen. Ich brauche die Genehmigung, Verstärkung aus den benachbarten Landkreisen anzufordern. Wir brauchen mindestens dreihundert Mann. Dringend!«
    »Dreihundert? Das ist aber eine Menge«, sagte Berner leise. Er dachte: Dreihundert ist hundert mehr als zweihundert.
    Diesen Satz fand er so komisch, dass er lachen musste.
    »Sie lachen? Mann, haben Sie noch alle Tassen im Schrank? Unsere Leute reißen sich hier den Arsch auf, die ganze Welt schaut auf uns, und Sie lachen? Sie wissen genau, dass die Sache brenzlig ist. Kann ich mich drauf verlassen, dass die Verstärkung kommt?«
    »Ja doch, ja doch, ich mach ja alles, regen Sie sich bloß nicht auf.« Er legte auf. »Frau Engel, jetzt brauche ich erst einmal einen starken Kaffee.«
    »Dreihundert ist hundert mehr als zweihundert!«, dachte er und musste kichern, wirklich witzig. Wie spät war es eigentlich, oh je, die Zeit verging heute aber gar nicht. Er nahm sich den Haufen Faxe vor, später wollte er auch noch den Computer in Gang setzen und sich die Mails ansehen. Er musste lächeln, »dreihundert ist hundert mehr als zweihundert.« Frau Engel brachte einen Kaffee. »Geht es Ihnen nicht gut, Herr Berner? Soll ich oben Bescheid sagen, dass Sie nach Hause müssen?

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