Wahn
Epileptikerin konnte sie ihre Praxis nicht wie bisher weiterführen, auf jeden Fall keine Endoskopien mehr machen. Und auch nicht mehr Auto fahren. Das war das Ende. Sie beschloss, sich erst einmal zu beruhigen und abzuwarten. Auf keinen Fall durfte sie mit jemandem darüber reden, niemand durfte das wissen.
Knapp zwei Wochen später, an einem Freitagvormittag, wurde Frau Dr. Schmitt-Zähringer in unserer Klinik aufgenommen, nachdem ein Nachbar den Notarzt gerufen hatte. Wie jeden Morgen war er vor seine Tür getreten, um die Tageszeitung aus dem Briefkasten zu holen, als er seine Nachbarin bewegungslos und zusammengekrümmt vor der Tür ihrer Doppelhaushälfte liegen sah. Sofort lief er quer durch das Rosenbeet zu ihr, um zu helfen. Als er bei ihr war, hörte er ein leises Wimmern, sie hielt die Augen zusammengekniffen und stieß monoton immer wieder aus: »Nicht schon wieder, nicht schon wieder.«
»Verdacht auf wiederholte epileptische Anfälle«, lautete die Aufnahmediagnose des Notarztes. In solch einem Fall wird vom Neurologen bereits auf der Notaufnahmestation eine schichtweise Untersuchung des Gehirns, eine Computertomographie, veranlasst. Die Untersuchung war negativ, das heißt, ihr Gehirn sah ganz unauffällig aus, kein Hirntumor, kein Schlaganfall, keine Veränderungen, die für Multiple Sklerose oder eine andere Entzündung des Gehirns sprechen würden.
»Erzählen Sie erst einmal genau, was passiert ist«, bat ich die Patientin eine halbe Stunde nach Aufnahme. Frau Schmitt-Zähringer berichtete, dass sie gestern Abend wie immer um 23 Uhr ins Bett gegangen sei, kein übermäßiger Alkoholkonsum, keine Aufregung, keine Probleme, alles sei ganz normal gewesen. Im Gegenteil, sie habe vor dem Schlafengehen noch etwas Gymnastik gemacht, wozu ihr sonst meistens die Energie fehlte, und im Bett habe sie noch in einer interessanten Biographie über Cosima Wagner gelesen. Heute morgen nach dem Aufstehen war sie gerade dabei, den Kaffeefilter ihrer Espresso-Maschine auszuwechseln, als sie plötzlich das Gefühl hatte, von einer Faust im Nacken gepackt zu werden, die ihren Kopf erbarmungslos und mit roher Gewalt nach unten drückte. »Ich wusste zwar, dass ich alleine im Raum war, aber das Gefühl war so elementar, dass ich regelrecht in Panik geriet.« Röchelnd sei sie mit der Stirn auf den Wasserhahn des Küchenwaschbeckens aufgeschlagen und habe sich dann auf dem Boden niedergekauert vorgefunden. Ob sie ohnmächtig geworden war, fragte ich. »Nein, ich war die ganze Zeit voll da, allerdings nicht mehr Herr meiner Sinne, ich konnte mich nicht mehr aufrichten, irgendetwas drückte mich hinunter. Ich war gerade noch in der Lage, gebeugt bis zur Haustür zu kriechen, in der Hoffnung, Hilfe zu bekommen, was dann ja auch gelang, mein Nachbar hat mich ja gefunden.«
Wenn ein Arzt solch eine Krankengeschichte hört, muss er sich vor seinem geistigen Auge die möglichen Differentialdiagnosen vergegenwärtigen, um gezielt weiterfragen und die endgültige Diagnose stellen zu können. Die ursprüngliche Diagnose des Kollegen, der als Erster in der Notaufnahme Frau Dr. Schmitt-Zähringer gesehen hatte, lautete: »Epileptischer Anfall.« Nach der jetzigen Anamneseerhebung konnte ich allerdings diese Verdachtsdiagnose nicht bestätigen. Es fehlten wesentliche Symptome, die normalerweise mit einem epileptischen Anfall einhergehen: Zum einen die sogenannte »Aura«, hierbei handelt es sich um Vorboten eines Anfalls, die auf den Ausgangsort des Anfallgeschehens im Gehirn Rückschlüsse erlauben. Es kann sich um ein unbestimmtes, vom Bauch aufsteigendes Gefühl handeln, welches als »gastrische Aura« bezeichnet wird, oder um plötzlich auftretende Geschmacks- oder Geruchssensationen; der Patient gibt an, plötzlich einen üblen Geschmack oder Geruch zu bemerken. Eine Aura kann sich auch als Kribbelmissempfindungen in Arm oder Gesicht äußern, oder ein Schwindelgefühl sein. Auch nach intensivem Befragen konnte Frau Dr. Schmitt-Zähringer sich an keines der geschilderten Phänomene erinnern. Ferner tritt beim epileptischen Anfall ein Bewusstseinsverlust beziehungsweise eine Bewusstseinseinengung auf, die der Patient zwar nicht bewusst wahrnimmt, die man aber gut herausfragen kann, indem man sich minuziös den Ablauf des fraglichen Anfallgeschehens schildern lässt. Nach den eigenen Angaben der Ärztin war sie zu keinem Zeitpunkt bewusstlos gewesen. Direkt nach einem epileptischen Anfall haben die Patienten, bedingt durch
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