Wahn
die elektrischen Entladungen, die ihr Gehirn durcheinandergerüttelt haben, Schwierigkeiten, sich zu orientieren. Sie wirken benommen und müde. In diesem Zustand können sie auf Fragen nur sehr begrenzt Auskunft geben und wissen häufig nicht, wer sie sind und wo sie sich gerade befinden. Über diese Phase hatte ich bei unserer Patientin nur wenig Informationen. Die Aussagen des Nachbarn waren als Folge seiner Aufregung nur bruchstückhaft, und der Notarzt, der die Patientin von zu Hause abgeholt hatte, hatte in seinem Protokoll lediglich vermerkt, dass sie nicht komatös gewesen war. Trotzdem: In der Zusammenschau aller Informationen hielt ich die Verdachtsdiagnose eines epileptischen Anfalls für sehr unwahrscheinlich.
Als zweite Möglichkeit kam die kreislaufbedingte Synkope in Frage. Diese tritt auf, wenn es zu einem plötzlichen Blutdruckabfall kommt oder der Herzrhythmus sich plötzlich so stark verändert, dass im Gehirn zu wenig Blut ankommt. Das hat zur Folge, dass für kurze Zeit das Gehirn nicht genug Sauerstoff bekommt und die Hirnfunktionen aussetzen. Dabei wird es den Patienten plötzlich schwarz vor den Augen, sie stürzen hin und liegen für kurze Zeit nicht ansprechbar auf dem Boden. Durch die horizontale Lage wird das Hirn wieder besser durchblutet und der Kollabierte wacht rasch wieder aus seiner Ohnmacht auf. Um solch eine Synkope konnte es sich nach den Schilderungen bei dem zurückliegenden Ereignis allerdings auch nicht gehandelt haben. Es fehlten das plötzliche Hinstürzen und die Vorboten, wie Schwarzwerden vor den Augen und Schwindelgefühle.
So blieb bei Frau Dr. Schmitt-Zähringer noch eine dritte mögliche Diagnose: »Hysterische Anfälle«. Obwohl das Fach Neurologie seinen Schwerpunkt in der Behandlung von organischen Hirnerkrankungen hat und sich auf Patienten konzentriert, die an Tumoren, Entzündungen oder Durchblutungsstörungen des Gehirns leiden, gibt es zwischen den Fächern Neurologie und Psychiatrie eine ganze Reihe von Überschneidungen. Zum Beispiel können Kopfschmerzen durch eine Entzündung der Hirnhäute entstehen, aber genau so gut als Folge starker seelischer Konfliktsituationen in Erscheinung treten. Beim Krankheitsbild der Hysterie blicken wir auf eine längere Geschichte zurück. Der Pariser Neurologe Charcot hatte Ende des 19. Jahrhunderts Frauen mit hysterischen Anfällen untersucht und beschrieben. Dem Begründer der Psychoanalyse, Sigmund Freud, ist ein erstes schlüssiges Konzept in Hinblick auf diese Erkrankung zu verdanken, das den Beginn der Psychoanalyse markiert. Freud prägte den Begriff der »Konversionsneurose«, um auszudrücken, dass sich bei diesen Patienten psychische Leiden in eine körperliche Krankheit umwandeln, also konvertieren.
Nach den vorliegenden Informationen erschien es mir sehr wahrscheinlich, dass die Patientin unter psychogenen Anfällen litt, also Anfällen, die keine körperliche Ursache hatten und rein seelischen Ursprungs waren. Allerdings gab es bei den meisten Patienten mit dieser Diagnose einen in ihrer Biographie verankerten Konflikt, den sie aus eigener Kraft nicht lösen konnten. Der psychogene Anfall war als Appell an die Umwelt zu verstehen: »Seht, wie hilflos ich bin, ich kann noch nicht einmal stehen, helft mir.«
Die Internistin Dr. Schmitt-Zähringer machte aber alles andere als einen hilflosen oder konfliktbeladenen Eindruck. Sie stand mitten im Leben, war in ihrem Beruf erfolgreich, hatte wohlgeratene erwachsene Kinder und nach ihren Angaben eine intakte Beziehung zu ihrem Mann. Ich nahm mir vor, an dieser Stelle noch einmal nachzuhaken, da gerade im Bereich von Partnerschaft und Sexualität häufig verborgene und nicht eingestandene Probleme vorhanden sind.
Zunächst lief jedoch in unserer Klinik die Routinediagnostik ab, um eine körperliche Ursache der Anfälle auszuschließen, wir wiederholten das Elektroenzephalogramm, um nicht eine epileptische Krampfbereitschaft des Gehirnes zu übersehen. Zusätzlich leiteten wir ein Elektroenzephalogramm nach Schlafentzug ab; hierbei durfte die Patientin eine Nacht lang nicht schlafen, und am Morgen wurde die Untersuchung im übermüdeten Zustand wiederholt. Das menschliche Gehirn zeigt nach solch einer Provokation eine erhöhte Anfallbereitschaft. Auch bestimmte Medikamente oder erhöhter Alkoholkonsum, aber auch abrupter Entzug von Alkohol können epileptische Anfälle auslösen.
Als wir keine neurologische Ursache gefunden hatten, wurde die Patientin auch noch
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