Wahnsinn
Körper herunter und sah überall Blut. Sie bemerkte eine Bewegung in der Küche. Dann kam Arthurs Vater auf sie zu, rief irgendwas, das sie jedoch, taub wie sie war, nicht verstehen konnte. Sie sah, wie er seine doppelläufige Flinte auf sie richtete, und schoss aufs Neue. Putz rieselte auf ihren Kopf und die Schultern herab, als das Gewehr krachend losging. Harry fiel um und blieb reglos vor der Küchentür liegen.
Dann erkannte sie Ruth hinter ihm, aber als sie den Revolver noch einmal heben wollte, hatte sie keine Kraft mehr im Arm. Sie rutschte an der Vordertür entlang auf die raue Fußmatte, die sich schief zwischen ihre Knie schob. Auch Ruth schrie jetzt, ihr Gesicht verzerrt, rot, grauenerregend und wütend, aber sie hörte sie nicht.
Lydia sah, wie sie schnell von Harry zu Arthurs leblosem Körper rannte, dort verharrte und auf die Knie fiel, die Hände auf seine Wangen legte und sich hin und her wiegte. Sie streckte eine Hand aus und legte sie auf sein Gesicht, dann starrte sie einen Augenblick ihre blutverschmierte Hand an und schrie wieder, sah zu Robert auf, der starr vor Schreck in seinem Schlafanzug auf halber Treppe stand, und stimmte ein irrsinniges Geheul an. Sie schrie weder Robert noch sie oder sonst irgendjemand an. Sie schrie aus einer wahnsinnigen, unvorstellbaren Wut heraus, die Lydia beinahe verstehen, beinahe nachfühlen und begreifen konnte.
Der Raum verschwamm vor ihren Augen.
Sie sah, wie Robert in ihre Richtung blickte, sah ihn das Blut an ihrer Brust und ihrem Bauch anstarren, sah das Entsetzen in seinem Blick: »Alles okay, Schatz.« Ihre Stimme klang undeutlich, wie von weit entfernt. »Jetzt ist alles wieder gut. Jetzt kann dir keiner mehr was tun. Es ist alles wieder gut, Schatz.«
Dann spürte sie Hände nach ihren Schultern greifen, große, schwielige Hände, blickte in Ralph Duggans aschfahles Gesicht und hörte ein Geräusch, bei dem es sich um Polizeisirenen handeln musste. Duggan löste sich in Licht und Dunkelheit auf, so dass sie ihn nicht mehr sehen konnte, sie spürte seine Hände nicht mehr, hörte nur noch das Schrillen in ihren Ohren, bis auch das verging. Sie glaubte, immer noch ihren Herzschlag zu spüren. Dann waren da nur noch Schweigen und Finsternis. Weshalb sie hierhergekommen war, worauf sie die ganze Zeit, vielleicht sogar ihr ganzes Leben gewartet hatte – jetzt war es zu Ende.
Epilog, Teil eins
Identifikation
Dem menschlichen Tod haftete ein unterschwelliger Geruch an, den weder Kälte noch Desinfektionsmittel zu bezwingen vermochten – wie der dunkle, feuchte Moder einer verwelkenden Blume oder der Geruch von verfaulendem Fleisch. Sie sahen auf den Leichnam von Arthur Danse hinab und Duggan konnte spüren, wie die junge Frau neben ihm zitterte. Verdammt, Arthur, dachte er, selbst jetzt machst du den Leuten noch Angst. Ich schätze, in der Hinsicht hast du einfach den Bogen raus.
Er hatte inzwischen den Bericht des Gerichtsmediziners gelesen und die saubere schwarze Wunde begutachtet, die seinem Leben ein Ende bereitet hatte. Lydias erster Schuss war ein klassischer Herztreffer gewesen. Er dachte daran, wie viel Glück sie gehabt hatte, dachte an das zerfetzte Organ in dem wieder zusammengenähten Körper vor ihm. Die beiden anderen Schüsse, die sie abgefeuert hatte, waren nicht so wirkungsvoll gewesen. Eine Kugel hatte die linke Seite seines Beckens gestreift, bevor sie abgeprallt und ungefähr einen Fuß über seinem Kopf in die Wand eingedrungen war. Die andere hatte einen Hautlappen aus seiner Wange gerissen und ihm den Unterkiefer zerschmettert. So, wie er Arthur kannte, hätte ihn das kaum aufgehalten.
Nein, nicht das Glück hatte hier die Hand im Spiel gehabt, sondern Vorsehung. Am Ende hatte die Hand des Schicksals ihre Finger im Spiel gehabt.
Trotzdem bereitete ihm der zerschmetterte Unterkiefer Kopfzerbrechen. Denn Marge Bernhardt hatte Danse aus diesem Grund auf den Fotos aus der Gerichtsmedizin nicht eindeutig identifizieren können. Was keine Überraschung war, denn die Toten, dachte er, sehen nun mal anders aus als die Lebenden. Und die lächelnden, liebenswürdigen Schnappschüsse, die sie bei ihm zu Hause gefunden hatten, schienen nicht ihrer Erinnerung an die finstere Gestalt zu entsprechen, die sie in einem eiskalten Wald an einen Baum zu nageln versucht hatte. Seine einzige Hoffnung bestand nun darin, dass der Mann, ungeachtet der Gesichtswunde und seiner bleichen, erschlafften Gesichtszüge, noch irgendwas an sich hatte, das
Weitere Kostenlose Bücher