Wahnsinn
wegzufahren? Bis sie ihn fanden, konnten Tage oder Wochen vergehen.
Er konnte für immer verschwinden.
Sie glaubte zwar nicht, dass er so weit gehen und absolut alle Brücken hinter sich abbrechen würde, aber sie hatte ihn auch noch nie so wie jetzt erlebt. Er schien zu allem fähig zu sein.
Mit einem Schal vom Rücksitz verband sie die blutende Wunde in ihrer Hand.
»Ich brauche ein Telefon, Cyn. Schnell.«
»Dann fahren wir zu dir. Und keine Sorge, Schnell ist mein zweiter Vorname.«
Lydia berichtete ihr, was passiert war.
Dröhnend zog der Asphalt unter ihnen vorbei.
»Himmel, Liddy, du hättest dabei draufgehen können«, antwortete Cindy. »Was willst du jetzt machen?«
»Die Polizei verständigen. Owen Sansom anrufen. Arthur ist dort, und das verstößt gegen die richterliche Anordnung. Ich werde überall anrufen. Hilfe holen. Und dann so schnell wie möglich wieder zurückfahren.«
Sie hielten in der Auffahrt, und sie war aus dem Auto und an der Haustür, bevor Cindy den Zündschlüssel abgezogen hatte.
»Du musst dir die Hand saubermachen«, rief sie.
»Scheiß drauf.«
Sie stand bereits am Telefon und wählte die Notrufnummer, doch ihre Hände zitterten so sehr, dass sie eine Taste dreimal anstatt zweimal drückte, aber das schien gar nichts auszumachen.
Sie sagte der Stimme am anderen Ende der Leitung, dass es sich um einen Notruf handelte, dass ihr Exmann ihren Sohn missbraucht hatte und es genau in diesem Moment womöglich wieder tun könnte und dass Arthur entgegen einer gerichtlichen Anordnung bei den Danses wohnte. Das alles brach überstürzt aus ihr heraus, dennoch war sie erstaunt, wie verständlich sie sich anhörte und wie klar und gefasst sie war.
»Sie wollen also, dass wir da hinfahren, habe ich Sie richtig verstanden?«
»Ja«, antwortete sie. Sie gab dem Beamten die Adresse.
»Okay, Madam«, sagte der Mann. »Aber ich will ganz offen zu Ihnen sein – technisch gesehen haben wir die Befugnis, Ihren Sohn aus diesem Haus herauszuholen –, aber nur, falls er in unmittelbarer Gefahr schwebt. Wenn das nicht der Fall ist, müssen Sie sich an einen Richter wenden und eine einstweilige Verfügung erwirken. Ist Ihr Junge unmittelbar gefährdet?«
»Meiner Ansicht nach schon.«
»Ihrer Ansicht nach. Sehen Sie, genau da liegt das Problem: Wir haben es hier mit einer rechtlichen Grauzone zu tun. Es kommt hier auf den Standpunkt an.«
»Mein Sohn lebt mit einem Kinderschänder unter einem Dach, Herrgott nochmal! Was hat das mit meinem Standpunkt zu tun?«
»Madam, wurde Mr. Danse jemals wegen einer Straftat verurteilt?«
»Verurteilt? Nein. Aber der Richter war definitiv davon überzeugt, dass …«
»Ich weiß, Madam, es ist nur so: Sehen Sie, bei einem verurteilten Straftäter wäre alles viel einfacher. Aber ich sage Ihnen was – ich werde mit meinem Vorgesetzten reden und ihm mitteilen, dass wir meiner Meinung nach da rausfahren und wenigstens mit diesen Leuten sprechen sollten. Und ich werde ihn bitten, Sie so bald wie möglich zurückzurufen. Okay?«
»Könnten Sie nicht …?«
»Das ist wirklich alles, was ich gegenwärtig für Sie tun kann, Madam. Es könnte außerdem eine Weile dauern. Ich würde Ihren Anruf bevorzugt behandeln, aber das geht momentan nicht. Wir haben einen Auffahrunfall mit fünf Fahrzeugen auf der 93. So viel ich weiß, brennt dort immer noch ein Auto. Unsere Leute sind zur Zeit alle im Einsatz, wir sind also momentan leider etwas unterbesetzt. Das tut mir sehr leid.«
»Wie lange wird das dauern?«
»Ein paar Stunden vielleicht.«
Himmel!
Selbst dann war nicht garantiert, dass sie wirklich etwas unternehmen würden.
Duggan, dachte sie.
»Hören Sie, ist Ralph Duggan da?«
»Der ist vor ungefähr ’ner halben Stunde nach Hause gefahren. Warum fragen Sie? Kennen Sie Ralph?«
»Ja.«
»Ist er mit Ihrer Situation vertraut?«
»Ich glaube schon. Teilweise zumindest.«
»Ihn anzurufen, ist wahrscheinlich die beste Idee. Ich rede auf jeden Fall mit meinem Vorgesetzten, aber Ralph kann sich womöglich viel schneller darum kümmern als wir. Haben Sie seine Telefonnummer?«
»Nein.«
»Ich gebe sie Ihnen.«
Sie notierte die Nummer. Dann ließ sie sich den Namen des Beamten geben, dankte ihm, legte auf und wählte erneut.
Eine Frau nahm ab.
»Guten Tag, mein Name ist Lydia Danse. Ist Officer Duggan zu sprechen?«
»Nein, ich fürchte nicht. Kann ich Ihnen helfen?«
»Erwarten Sie ihn bald zurück?«
Sie lachte. »Ganz ehrlich? Das kann man
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