Wahnsinns Liebe
hineingetan.«
Da ist er wieder, dieser Schraubzwingenblick von Gerstl. Was will der Kerl? Warum zerstört er damit die schwebende Atmosphäre hier?
|107| Schönberg macht ein paar Schritte auf ihn zu. »Ist was mit Ihnen?« Die Frage klingt nicht besorgt, nur verärgert.
»Ich komme aus Ihrer Wohnung. Ihre Frau hat soeben entbunden, die Geburt war sehr schwer, sagt die Hebamme.«
»Und? Hat meine tapfre Mathilde alles gut überstanden?«
»Überstanden schon«, sagt Gerstl, zieht sein Taschentuch heraus und wischt sein schweißnasses Gesicht ab. »Es ist ein Sohn …«
Schönberg lächelt. »Nett von Ihnen, daß Sie mir die Nachricht überbracht haben. Sagen Sie Mathilde, ich komme bei Gelegenheit vorbei.«
Während Gerstl, geschoben vom verständnislosen und verdrossenen Geraune der anderen, aus dem Raum flieht, hört er in seinem Rücken Schönberg reden über die Herrlichkeit der Entgrenzung.
Es nieselt, als er auf die Straße tritt, der Himmel ist verhangen, ein lauer, aber heftiger Wind geht und treibt ihn zurück in die Liechtensteinstraße, zu Schönbergs. Die Treppen hetzt er hinauf, erst vor der Wohnungstür beruhigt er sich.
Mathildes Gesicht ist weiß wie das Kissen. Ihr langes offenes Haar liegt dunkel rötlich schimmernd darum herum.
»Was hat er gesagt?« fragt sie.
»Er hat von Auflösung gesprochen«, flüstert Gerstl. »Vom Unsinn einer Treue ohne Leidenschaft.« Ihre Augen weiten sich. »Es ging natürlich um die Auflösung tonaler Strukturen in seiner ersten Kammersymphonie.«
»Vielleicht stimmt es ja«, kommt es aus dem Kissen, |108| »was so viele behaupten: daß die Kunst die Wirklichkeit spiegelt.«
Gerstl sieht sich um. Die Hebamme hat den Raum verlassen, die beiden Türen sind geschlossen. Er streichelt Mathildes feuchtes Gesicht, küßt ihre Stirn, ihre Lider, ihre Nase, ihren Mund, ihr Kinn und dann den festen glatten Hals hinab bis an Rand des Nachthemds. »Nein, Mathilde, nein. Es spiegeln sich nur verschiedene Wirklichkeiten ineinander.«
Als Schönberg lange nach Mitternacht in ihr Zimmer kommt, riecht er wieder nach ihr, der Müßiggängerin.
»Ich schlafe die nächsten Nächte auf dem Sofa in meinem Arbeitszimmer« sagt er und tätschelt ihre Wange. »Das ist dir doch sicher recht, meine Liebe.«
»Er wird Georg heißen«, sagt sie. Und etwas matt: »Das ist dir doch sicher recht.«
Keiner hat mit diesem Wetterumschwung gerechnet. Um die Mittagsstunde noch ist die Stadt trocken, neonhell und laut gewesen. Gegen drei hat sich der Himmel verdüstert, und seither ist der Schnee pausenlos gefallen. Jetzt erst, gegen zehn Uhr abends, hat es aufgehört zu schneien. Wie eine Kuppel aus blauschwarzem Glas mit goldenen Einschlüssen wölbt sich der Himmel über die verstummende Stadt.
»Das wäre der ideale Konzertsaal«, sagt Schönberg, als er mit Bessie und Loos von der Bösendorfer Straße zum Haus der Schwarzwalds aufbricht, und bleibt stehen. »Diese tiefe Stille, die jeden Klang verstärkt. |109| Dieser fest wattierte Boden. Dieser klar gewordene Himmel – besser als jede kunstreich konstruierte Decke. Und vor allem: so eine Nacht, in der alles vom jungfräulichen Schnee bedeckt ist, macht die Menschen schweigsam. Ideales Publikum. Sie spüren mehr und reden weniger.«
»Von dir abgesehen«, sagt Loos.
Ohne ein weiteres Wort gehen sie weiter, bis ihnen aus der geöffneten Tür der Gastgeber die lichte Wärme entgegenquillt.
Das Eßzimmer erhellt ein nur in Rot und Gold geschmückter Christbaum an der linken Wand. In der Kaminnische rechts thront Genia. Für eine Frau von Mitte Dreißig wirkt sie bereits matronenhaft. Ihr rundes Kinn, ihre wulstigen Oberlider, ihre weich verpackten, weißen Handgelenke, die sie nur langsam bewegt – wer die Frau Doktor Schwarzwald nicht kennt, hielte sie für behäbig.
Als Loos sich über ihre Hand beugt, sagt sie: »Ich weiß, dein Baum ist viel schöner als unserer, er muß ja der schönste sein. Aber unter unserem haben eben mehr Leute Platz.« Sie weiß, daß Bessie und Loos bei sich zu Hause schon zu zweit ein Galamenü hinter sich gebracht haben, jeder Bissen Lachs, jeder Flußkrebs, jede Nuß von Loos vollendet ausgewählt, vollendet dekoriert, vollendet serviert, das sie mit niemandem geteilt haben.
Die Tafel hier ist für sechzehn Gäste gedeckt.
»Ihr Juden«, sagt Loos, »schlagt viel mehr aus dem Leben raus als wir. Aber das ist unser Problem. Wir sind die Gleichgültigen. Ihr lest die besten Bücher, ihr habt die
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