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Wahnsinns Liebe

Wahnsinns Liebe

Titel: Wahnsinns Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lea Singer
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gesponnenen Fäden und kunstreichen Netze der Komposition durchschneiden und zerfetzen müssen. Denkt nur an den vierten Satz der ›Fantastischen Symphonie‹ von Berlioz: Da zerschlägt er dieses Gespinst mit einem Schwerthieb. Hört euch das an, hört es euch wieder und wieder an. Siebenundsiebzig Jahre ist das her, und keiner hat daraus etwas gemacht. Keiner hat diese Idee aufgegriffen. Das ist, als ob Gold auf der Straße läge und jeder stiege darüber hinweg wie über einen Haufen Hundedreck. Weiterhin haben sie sich ungeheuer angestrengt, um das System auszutricksen. Kühn, sogar unverschämt und herausfordernd zu sein – aber immer und immer und immer nur im Rahmen des Erlaubten. Dabei hat es schon lange Hinweise gegeben, daß eine Gier in den Komponisten brannte, es zu tun. Es endlich zu tun.«
    Was? müßte nun einer fragen. Und: Welche Hinweise?
    Webern wäre der Kandidat. Der müßte das fragen. Er sieht Webern an. Dessen schmale Augen werden schmaler. Er reckt den Kopf.
    »Was?« fragt Webern mit seinem unerwachsenen Tenor. »Und welche Hinweise?«
    Schönberg geht es gut. An diesem Abend wird er sich ein Schnitzel gönnen, ein Kalbsschnitzel bei Meissl & Schaden. »Nehmen wir Schubert mit der ›Wanderer-Fantasie‹. Warum? Weil er darin wagt, als ein Wanderer nur zu suchen, nicht zu finden.« Schönberg wartet ab wie ein erfahrener Jongleur die Rückkunft des Balls. Der Ball kommt wie erwartet von Berg. »Warum hat niemand da weitergemacht, wo Berlioz anfing?«
    Schönberg fängt den Ball leicht und mühelos und |105| jongliert mit ihm so, daß keiner etwas anderes wahrnehmen kann als eben diesen Ball. »Warum, ja warum? Weshalb blieben sie etwas treu, das sie beengte? Warum bleiben wir etwas treu, was uns beengt? Treu bleiben ohne Leidenschaft ist Verrat an der Leidenschaft.«
    Er blickt wieder in diesen Augenspiegel und wächst.
    » Ich werde es euch sagen: Weil sie alle Angst hatten, weil wir Angst haben davor. Angst davor, aufzulösen.«
    Nun sieht er nicht in Augen, nur auf gesenkte Schädel.
    Auf der glänzenden Stirnglatze von Krüger, auf die sanften üppigen Wellen von Berg, auf das stumpfe Aschblond von Webern, auf den schlampig nach hinten gekämmten Schopf von Jalowetz, auf Smaragdas krause gebändigte Haarpracht, auf den akkuraten Scheitel von Wellesz, auf Jachimeckis pomadisierten Kopf. Alle schreiben mit, was ihr Lehrmeister predigt mit einer Stimme, die das schafft, was seiner Musik nicht vergönnt ist: jeden zu betören.
    »Ich bin gekommen, um aufzulösen«, setzt er ein drittes Mal an. »Und der Treue ohne Leidenschaft ein Ende zu setzen.«
    Die Tür hat sich geöffnet, erhitzt ist Gerstl hereingekommen. »Das ist gut, sehr gut« nuschelt er. »Gekommen, um aufzulösen …«, spricht er vor sich hin, als er sich angestrengt leise, also sehr geräuschvoll, auf einen der hölzerne Stühle zwängt. »Gekommen, um aufzulösen. Gekommen, um aufzulösen.«
    Schönberg ist irritiert. Warum sieht dieser Gerstl ihn aus seinen leicht schielenden Augen an, als fände hier ein Zwiegespräch zwischen ihnen beiden statt? Warum versucht er, ihn mit seinem Blick zu bannen?
    |106| Ist ja schön, daß auch der junge Maler ihn derart vergöttert – schließlich versteht der Kerl so viel von Musik, daß ihm gerade erst von einer der großen Zeitungen angeboten worden ist, Musikkritiker zu werden. Nur Gerstls Art der Bewunderung, diese bedrängende, heiße Bewunderung, die in dem überheizten Raum ohnehin unangenehm ist, verdirbt die milde Andacht der anderen wie ein zu scharfes Gewürz die Suppe. Mit einer unwirschen Kopfbewegung schüttelt Schönberg Gerstls Blick ab.
    »Wie versprochen werde ich jetzt meine Arbeit der letzten Wochen am Tegernsee vorstellen – die vollendete Kammersymphonie.«
    Jawohl, es funktioniert. Er ist als Magier begabt; alle Augen sind nun wieder auf ihn gerichtet. »Schaut sie euch an. Und ihr werdet fasziniert sein. Weil sie panisch erregt ist, weil sie so intensiv ist, wie meine Empfindungen waren, als ich sie schrieb.«
    Stille.
    »Und ihr werdet enttäuscht sein.«
    Stille.
    »Weil darin eigentlich nichts geschieht.«
    Schönberg spürt, wie sich die Aufmerksamkeit verdichtet, wie sie ihn trägt. »Und darum geht es mir: um das Nichts. Die Vorstellung des Nichts ist die größte Anforderung an den menschlichen Geist. Das Nichts denken zu können, ist etwas Großartiges. Das Nichts ist ein Wunderreich, das ich euch eröffnen will. Aber ich habe nur den ersten Schritt

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