Wahnsinns Liebe
ausdrücklich. »Ich meide die Essen bei der Genia, weil sie mir zu gesund sind«, sagt Altenberg an einem sicheren Tisch am Fenster. »Und ich meide das Mitleid mit einem wie ihm, weil’s mir zu ungesund ist.« Friedell, ihm gegenüber, hat den Kopf in den Nacken gelegt und seinen Blick so unübersehbar in weite Fernen |116| gerichtet, daß jeder spüren muß: Einer, der Unsterbliches denkt, darf nicht mit Mutmaßungen über eine Wasserleiche behelligt werden.
»Seit wann vermißt du sie denn?« Die Schluchzer des Verzweifelten versickern in der Nüchternheit von Loos.
»Schon eine ganze Weile.« Aber zuerst, meint er, habe er die Hoffnung gehabt, sie sei eben durchgebrannt. »Nur: eine, die doch immer eine gute Mutter gewesen sei, die bleibt doch nicht derart lang weg, oder? Und du weißt ja, geschrieben hat sie schon, aber geredet hat sie immer wenig. Über sich selber, jedenfalls.«
Loos weiß, was gegen den Schmerz hilft. Er weiß, daß es für seinen ehemaligen Schwiegervater eine Droge gibt, die immer wirkt: die Arbeit. »Machst du uns drei kleine Braune, und der Friedell würde sicher gern deinen Topfenstrudel essen. Er schaut grade so vergeistigt, als würde er an nichts als ans Essen denken.«
Karl Obertimpfler zupft seinen Schnurrbart zurecht, richtet sich auf, zieht die Samtweste herunter und macht sich an die Arbeit. »Und jedem noch eine Stimmung«, sagt er beiläufig im Weggehen. Loos setzt sich zu den anderen beiden. Altenberg sieht den Tröster mit hochgezogenen Brauen an, als wäre er eine bigotte Betschwester, und schweigt. Obertimpfler werkt im Hintergrund mit jenen geübten, geschmeidigen Handgriffen, die für Loos, der ihm zuschaut, das Ballett des Alltags sind. Dann bringt er den Kaffee, stellt eine Portion Strudel vor Friedell ab, die dessen Geist schlagartig auf die Erde holt, und serviert den drei Gästen zum Bestellten noch einen Likör in den farbigen mundgeblasenen Gläsern, die er – ein Dichter schlummert doch auch in ihm – »Stimmung« nennt, |117| einen in tomatenrotem, einen in kornblumenblauem und einen in grasgrünem Glas, und meint, ohne Loos anzusehen: »Hast schon recht.«
Loos weiß nicht, womit, aber er drückt dem Alten die fleckige Hand. Auch er hat das Gefühl, daß die Älteste des Kaffeesieders Karl Obertimpfler nicht zurückkehren wird, wohin auch immer sie gegangen sein mag.
Friedells Versunkenheit gilt nun dem Topfenstrudel. Als nichts mehr davon da ist außer dem, was seiner Weste vergönnt war, seufzt er: »Ich glaube, die Weiber wollen nicht verstanden werden. Die haben eine derart unübersichtliche Art zu denken oder sagen wir vorsichtshalber: zu empfinden, daß keiner mitkommen kann.«
»Sprichst du über die Damen in deiner Kulturgeschichte oder über die gegenwärtigen?« Loos hat die Traurigkeit noch nicht aus seinen Augen verjagen können. Immerhin war die Verschollene drei Jahre lang seine Schwägerin.
»In der Kulturgeschichte«, sagt Friedell und kippt seinen Likör aus dem blauen Glas, »kommen Damen sowenig vor wie in meinem Leben. Ich rede von der Obertimpfler-Tochter. Da will sie erst einen Mann und kriegt ihn. Dann will sie Kinder und kriegt sie. Dann will sie auf einmal als Schriftstellerin Erfolg haben und kriegt ihn. Und was will sie dann? Nichts wie weg.« Er schüttelt den schweren Schädel. »Also – würde ich mich damit beschäftigen, ich käme ja zu gar nichts mehr.« Mit einer flinken Bewegung greift er das smaragdgrüne Likörglas von Loos. »Du trinkst das ja eh nicht.«
Altenberg sitzt zusammengesunken da. Das Schlimmste, meint er, sei die kleine Tochter, die jetzt nicht wisse, |118| wohin. »Wie kann eine Mutter nur solch eine Engelsseele sitzen lassen.«
»Weil die Engelsseele schmutzt, schreit, fordert, ihre Mutter häßlich macht und zermürbt. Nur auf Spaziergängen mit dem lieben Onkel verwandelt sie sich dann wieder in eine Engelsseele.« Loos trinkt seinen kleinen Braunen aus und schaut in die geleerte Tasse. »Das war das Beste an meiner jugendlichen Syphilis: daß ich keine Kinder kriegen kann.«
»Ach«, sagt Altenberg, »dazu braucht’s keine Syphilis.«
»Nicht einmal eine Impotenz«, sagt Friedell.
Dann schweigen sie alle drei.
Obertimpfler schlurft an den Tisch und fragt, ob noch etwas gewünscht werde. »Gibt es noch diese großen gelben Bohnen in Essig und Öl?« fragt Altenberg.
»Und eine Portion Zwiebelfleisch?« fragt Friedell.
»Mir reichen zwei von den Tiroler Dechant-Birnen aus deinem Garten«,
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