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Wahnsinns Liebe

Wahnsinns Liebe

Titel: Wahnsinns Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lea Singer
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noch nicht vorbei, als es anfängt. Vor ihr halten sich die Leute die Ohren zu, |26| fangen an zu zischen wie Wasserkessel, scharren auf dem Boden. Pfiffe sind von hinten zu hören. Der Kerl mit dem kahlgeschorenen Schädel neben ihr sitzt ruhig da und krallt seine Hände ineinander. Will er die daran hindern, sich selbsttätig an die Ohren zu legen, oder vielmehr daran, tätlich zu werden?
    Er riecht nach Terpentin, dieser Mensch.
    Da beginnt der zweite Teil, wo Melisandes erwachende Liebe zu Pelleas, dem Bruder ihres Ehemanns, beschworen wird. Und ihr Thema und das von Pelleas einander umarmen. Davon ist leider wenig zu hören.
    Mathilde spürt, daß ihr Rücken schmerzt. Der Kerl neben ihr krampft die Hände derart gewaltsam ineinander, daß sie kurz überlegt, ob er Epileptiker sei. Aber außer einem unterdrückten Stöhnen gibt er keinen Muckser von sich. Warum sind seine Fingernägel schwarz? Terpentin, dreckige Fingernägel – hat er etwas mit Kunst zu tun?
    Sie versucht, sich auf die Musik zu konzentrieren. »Mein Mann«, hat sie Alex einmal gestanden, »interessiert sich nämlich sehr dafür, wie intensiv ich mich für ihn interessiere.« Und Alex hatte nur die Achseln gezuckt. »So ist das eben, wenn man mit einem Genie verheiratet ist.«
    »Dann«, hatte sie gesagt, »müßte ich eigentlich mit Alma Mahler und deiner Frau einen Verein gründen.«
    Schönberg behauptet, er spüre ihre Konzentration. Die stärke ihm den Rücken. Doch ihre Gedanken flutschen weg. Sie entgleiten mir, denkt sie, wie vor zwei Tagen der noch nicht ganz totgeschlagene Karpfen in der Küche. Sie hat ihn dann nach einem Rezept ihrer jüdisch-muslimischen Mutter aus Sarajewo gekocht, süß-sauer, gegart in einem Sud mit Lorbeerblättern, |27| Zwiebeln, Karotten, Nelken, Pfeffer, Zitronenscheiben und Knoblauch, in den zum Schluß Zucker und Essig kommen. Mein Gott, wenn Arnold wüßte, schimpft sie sich, daß ich an süß-sauren Karpfen denke, während er hier erbittert für seine Sache kämpft, die Feinde im Rücken.
    Aber daran ist ihr Nachbar im Saal schuld.
    Kennt sie den Kahlkopf vielleicht aus der jüdischen Ecke? Obwohl: ins israelitische Bethaus geht sie so gut wie nie, höchstens bei Beerdigungsfeiern für irgendwelche Onkel oder Tanten. Schließlich ist sie getauft, protestantisch getauft wie ihr Bruder Alex. Und nachdem sie nicht koscher kocht und auch nur selten mal dort einkauft, wo es koschere Sachen gibt … Nein, falsche Spur.
    Der Lärm schwillt an, hinter ihr vor allem. Ausgerechnet jetzt, wo diese emphatische Kantilene beginnt, dieser schwierige, großartige Gesang von übermächtigen Gefühlen, die stärker sind als jede Vernunft. Warum setzen sich Stänkerer eigentlich immer nach hinten und niemals nach vorn? Sie wollen den anderen wohl im Nacken sitzen.
    Er riecht wirklich nach Terpentin, eindeutig.
    Bei der neueröffneten Wäscherei in der Liechtensteinstraße, überlegt Mathilde, da riecht es manchmal nach Terpentin. Warum weiß sie nicht. Könnte er aus ihrem, aus dem neunten Bezirk sein? Nein, das ist keiner, den sie von der Straße kennt oder vom Greißler.
    Wie ein aufziehendes Gewitter nimmt der Unmut im Saal zu. Wut staut sich an. Ob er überhaupt durchhalten wird bis zum vierten Teil?
    Da – jetzt ist es scharf, gestochen scharf und glasklar, das Bild: Der Kahlgeschorene steht in einem der wohltuend |28| nackten Säle im Secessionsgebäude und glotzt auf ein Gemälde. Er schaut nicht, er glotzt. Der Unterkiefer hängt herunter, sein Oberkörper ist vorgeneigt, als starrte er den eigenen Augäpfeln nach, die bereits aufgesogen sind von dem Bild. Vorletztes Jahr muß das gewesen sein, bei der Impressionistenausstellung. Genau, eine der fünf Van-Gogh-Landschaften ist es gewesen, die von den meisten Leuten ausgelacht worden sind. Und von ein paar wenigen erkannt wurden als Eruptionen eines Genies, das nichts Vergleichbares kennt. Ein Maler, könnte er Maler sein, der Mann neben ihr?
    So, nun ist er da, der Skandal. »Ab ins Irrenhaus«, brüllt einer in den Saal. »Sperrt ihm das Papier weg, damit er es nicht mit seinen Noten zuscheißt«, ein anderer. Und dann hört sie nur ein paar Reihen hinter ihr einen der Kritiker: »Aufhören! Sofort aufhören!«
    Sie verkriecht sich in sich selbst. Sieht auf ihren dunkelblauen Schoß, denkt an Trudi, ihre Tochter, und daran, ob ihr Sarah wohl genügend Zimt über ihre Palatschinken gibt.
    Nur noch stark hundert Takte, sagt sie sich. So lange wenigstens könnten

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