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Wahnsinns Liebe

Wahnsinns Liebe

Titel: Wahnsinns Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lea Singer
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blecherne Schaufel auf, die ihr aus der Hand gefallen ist und kehrt den Schmutz noch einmal zusammen. Es hat sie überfallen. Das Gefühl, nein: die Gewißheit, daß sie diesen Mann nicht liebt. Sie hat ihn niemals geliebt.
    Mütterlich sei sie, haben ein paar seiner Schüler gesagt, und einige deutlich ältere Männer aus dem Bekanntenkreis haben das auch behauptet. Und jetzt auf einmal erkennt sie es: Sie ist seine Mutter. Denkt daran, daß sie ihm noch frische Hemden bügeln sollte, daß sie ihn dazu bewegen müßte, sich die Haare zu waschen, den Anzug zu lüften. Und sie ermahnt sich schon, an diesem Abend nicht nach dem Verrückten zu fragen, wenn Arnold über seine neueste Arbeit oder irgendeine seiner zahllosen Streitereien mit Journalisten |21| reden will. Trotzdem beschäftigt sie nur ein Gedanke: der Gedanke an den Mann, den sie wahnsinnig nennen.
    Sie hat es um drei Uhr nachmittags nicht geahnt, daß sie nachts um halb zwei noch mit müden, weit offenen Augen im Bett liegen wird. Und ungeachtet des Genies an ihrer Seite an einen Verrückten denkt.

    Sie steht nicht weit von der hohen Flügeltür und sieht sich jeden an, der in den Saal will. Die Physiognomie, die Haltung, die Hände, die Schuhe, die Schritte. Wie alle Frauen ist auch sie sich völlig sicher, Instinkt zu besitzen, und der meldet ihr eine Katastrophe. Friedlich oder gar gelassen sieht keiner aus, nicht einmal diejenigen, die sicher auf seiner Seite sein werden. Die Augen verengt, das Kinn, selbst wenn es von Natur aus fliehen möchte, nach vorn geschoben, der Mund verschlossen, damit ihm ja keine menschliche Regung entkommt. Dabei hatten sie in der Pause Gelegenheit gehabt, sich zu amüsieren und zu lockern. Aber sie wirken, als ballten sie bereits die Fäuste und spannten die Muskeln, und sehen in Anzug und Frack aus, als trügen sie eine Kampfuniform. Das Ganze wäre komisch, wenn es ihren Mann nicht an den Abgrund triebe. Wüßte sie nicht, daß eine verlorene Saalschlacht heute abend ihr Tage und Wochen beschert, an denen sie einen lebensmüden Mann davon abhalten muß, sich in Verzweiflung und Fusel zu ertränken, könnte sie sich amüsieren über diese Visagen. Soll einer behaupten, Kultur würde nicht wichtig genommen. Hier sieht es doch ganz danach aus, als ginge es um Leben und Tod.
    |22| Wer ist dieser Kahlgeschorene mit dem düsteren Blick? Mathilde merkt, daß sie geladen ist mit Mißtrauen. Sogar vertraute Gesichter beäugt sie, als wären es fremde. Und fremde, als wären es von vornherein verdächtige.
    Gut, daß sie selber unscheinbar ist und selbst von denjenigen, die oft bei ihnen zu Hause bewirtet werden, kaum einer sie auf der Straße wiedererkennen würde. Für Schönbergs Feinde existiert sie vermutlich gar nicht. Und jetzt im Moment ist ihr das nur recht.
    »Ich komme erst am Schluß dran«, hat Arnold sie zu beruhigen versucht.
    Trotzdem schmerzt ihre Galle, der eigene Angstgeruch steigt ihr in die Nase. Schnell tupft sie Veilchenwasser auf. Und hört ihren Bruder Alexander reden. »Ein Chaos, ein völliges Chaos«, hat er prophezeit. Seinem Stück haben sie Applaus gegönnt, aber nur pflichtschuldig, als müßten sie das Angenehme schnell hinter sich bringen, um sich mit unverbrauchter Energie in den entscheidenden Kampf zu stürzen.
    »Aber sie werden doch in der Pause vor Arnolds Auftritt sicher in gute Stimmung kommen«, hatte sie gemeint. Sie sieht, daß sie sich getäuscht hat. Der Große Musikvereinssaal ist sehr gut besucht, doch die Gäste Musikfreunde zu nennen fiele keinem ein. Warum sind nur so wenige Frauen da? Na gut, es ist bei solchen Ereignissen schon Blut geflossen, zumindest aus ein paar Nasen.
    Sie hat sich einen Platz am Gang geben lassen. Aus Bescheidenheit, redet sie sich ein. Aus Angst, weiß sie im Grunde; fluchtbereit will sie sein.
    Ausgerechnet der Kahlgeschorene setzt sich neben sie, ein großer, hagerer Mann, noch jung, aber mit |23| scharfen Falten von den Nasenflügeln zu den Mundwinkeln. Auf welcher Seite der sich wohl befindet? Auf der Schönberg-Seite oder der feindlichen? Er wirkt körperlich kräftig. Irgendwo ist sie ihm schon begegnet. Wie ein Schatten steht die Erinnerung vor ihr, nicht greifbar. Während Schönberg aufs Podium tritt, sucht sie in ihrem Kopf nach der Szene, die diesen Schatten wirft, und versucht, die vorbeihuschenden Bilder scharf zu stellen. Ist es bei einem der letzten Mahler-Konzerte gewesen? Vielleicht.
    Der Beifall für den Dirigenten und Komponisten

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