Wahnsinns Liebe
Schönberg, der jetzt am Pult steht, tut weh: Jedes der klatschenden Händepaare erkennt sie. Hört die teigigen Hände von Berg und die ledernen von Webern, die gepolsterten von Krüger, die muskulösen von Wellesz und die knochigen von Jalowetz, die dürren von Horwitz, also nur von all denen, die ihre nassen Mäntel in ihrer Wohnung stapeln und ihren Mann anbeten. Und das, was er heute zum ersten Mal in Wien aufführt, finden sie selbstverständlich genial.
Sie findet es wie ihr Bruder vor allem schwierig. Unaufführbar, hat Alexander das Stück genannt, hat zugegeben, daß ihm die Augen und der Kopf schmerzen beim bloßen Lesen der Noten. Außerdem sei diese sogenannte »Symphonische Dichtung«, hat er unumwunden erklärt, »ganz unpraktisch«. Und auf solche Bemerkungen reagiert Arnold wie eine Frau, wenn ihr Mann ihr sagt, das Abendkleid mit Schleppe oder der neue Hut seien unpraktisch: Er ist beleidigt und will es erst recht. »Vieles ist zu überladen, vieles nicht ausführbar«, hat ihr Bruder seinen Schüler gewarnt, auch wenn er am Rande widerstrebend angemerkt hat, das Ganze sei übrigens ein Kunstwerk. Die Überladenheit |24| kann jetzt jeder sehen: an die zwanzig Holzbläser und ungefähr gleich viele Blechbläser, zwei Harfen, großes Schlagzeug, ein Streichorchester mit weit über fünfzig Leuten. Mehr als hundert Personen drängeln sich da vorn auf dem Podium. Mancher Bläser muß Angst um sein Augenlicht haben, wenn er zu nah an einem Geiger oder Bratscher sitzt. So etwas hassen Musiker verständlicherweise. Und dieser ganze Aufwand für eine intime Liebestragödie mit drei Personen. Pelleas und Melisande und Golaud, der Bruder des Pelleas.
Dabei könnte alles ganz einfach und gefällig sein.
Das Drama von Maeterlinck, das Schönberg vertont hat, käme dem Publikumsgeschmack durchaus entgegen. Denn alle Männer, die gerne fremdgehen, lieben Stücke, in denen Frauen ihren Gatten betrügen oder zumindest dessen verdächtigt werden und dafür von selbigem mit meist tödlichem Ausgang abgestraft werden. Es tut so gut, auf der Bühne büßen zu lassen fürs eigene schlechte Gewissen. Um nichts andres geht es doch, wenn immer von diesem reinigenden Effekt der Dramen geredet wird, denkt sich Mathilde und lächelt kaum sichtbar. Und alle Frauen im Publikum, die von ihren wichtigen Ehemännern angeödet sind, freuen sich bei solchen Geschichten daran, daß zumindest im Theater ihre Geschlechtsgenossinnen dann einfach einen hübschen Liebhaber vorziehen, der ihnen schöne Dinge sagt, sich Zeit zum Küssen und Streicheln nimmt und ihr Haar auf seinem Körper spüren will. Eigentlich ist Eifersuchtsdramen der Erfolg sicher, überlegt Mathilde. Aber wohl eher dann, wenn die Beteiligten auch auf der Bühne zu sehen sind, heulen, lechzen, schluchzen, sich umarmen, verfluchen und schließlich ermorden. Doch so ohne Aktion als symphonische Dichtung |25| und dann auch noch anstrengende Schwerarbeit für die Ohren und das Hirn?
Nein, sie hat nicht versucht, ihm dieses radikale Stück auszureden. Er hat schon immer herausfordern, sogar beleidigt werden wollen und fühlt sich dann manchmal wie ein Messias. Und sie beeindruckt das, mehr noch: An so einem Abend, wo sich alles gegen ihn richtet und er wie ein dicker kleiner Soldat unbeirrt seine Schlacht schlägt, da spürt sie, wie sie lüstern darauf wird, den müden heißen Kämpfer dann auf sich liegen zu haben. Er, stolz auf den geleisteten Widerstand, weiß das und holt sich diesen Lohn immer ab, gleichgültig, wie viele Gläser Blaufränkischen oder Marillenbrand er davor gekippt hat. Nur: wenn es soweit ist, wenn er, während er mit seinen großen Händen ihre Brüste packt, in sie eindringt, dann spürt sie nichts mehr. Ganz gleichgültig ist ihr Fleisch dann. So gleichgültig, als sei der Tastsinn aus ihr gewichen. Und dann huschen ihre Gedanken hinter geschlossenen Lidern zu Dehmel, dem in vielem lächerlichen Verehrer von früher; wenigstens für Sekundenbruchteile hatte er es geschafft, sie mit der einen oder anderen Berührung zu elektrisieren.
Oder liegt es an ihr? Ist sie erkaltet und hat, wie abgekühlter Grießpudding, eine dicke harte Haut angesetzt? Ist es nicht Arnolds Schuld, sondern ihre?
Da steht er nun, kampfbereit. Nur sie weiß, daß seine dicken Knie zittern unter der weiten Frackhose. Daß sein Hemd schon jetzt naßgeschwitzt ist. Und er den Taktstock so fest umklammert, daß die Fingerspitzen weiß sind.
Der erste von vier Teilen ist
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