Wahnsinns Liebe
Mathilde die erste Frau ist, die ich kenne, die von Musik etwas versteht.« Sie hätte erröten wollen, was aber nicht geschah und im Dunkeln ohnehin keiner gesehen hätte. Ihr Bruder fuhr |18| zusammen, sagte jedoch kein Wort. Die Frau, die seiner Meinung nach mehr von Musik verstand als seine Schwester, setzte ihn, den angesehenen Alexander von Zemlinsky, seit einiger Zeit einem Wechselbad aus, das kaum zu ertragen war. Betörte, bewunderte und beleidigte ihn, verführte und verstieß ihn, machte ihn begehrlich und machte ihn fertig. Mathilde sah dem grausamen Spiel verwundert zu, ohne sich einzumischen; sie hatte sich noch nie eingemischt. Daß Alex das nicht verstand: Eine Alma Schindler, trotzig schön und überzeugt, eine Auserwählte zu sein, strebte nach Höherem. Sie wollte zwar ein Genie heiraten, aber ein anerkanntes.
Nun tat er so, als beschäftigte ihn nur die Urlaubsarbeit Schönbergs. Und als er schließlich nickte und fragte: »Gibt es hier eigentlich noch Wein im Haus oder Sekt?«, da erst setzte sich der Schüler zu den beiden.
Drei Stunden später trat Mathilde nackt und barfuß ans Fenster ihres Zimmers. Weil sich ihre Haut noch immer klebrig anfühlte, hatte sie sich entschieden, ohne etwas am Leib ins trockene Leinen zu kriechen. Sie stand da, horchte hinaus in diese Nachtgeräusche, versuchte zu erraten, welches Tier wie ein Kind wimmerte, welches wie ein alter Parkettboden knarzte und ob es ein Baum, ein Mensch oder ein Vogel war, der dieses Schnarren hervorbrachte. Da hörte sie Schritte, schlurfende Schritte, wie von jemandem, der sehr weite Sandalen anhat, und hörte, wie ihre Tür aufging. Dann spürte sie seine Hände an ihren Hüften.
Die folgenden drei Wochen wurde sie nie ganz nüchtern. Tags döste sie, mal über einem Roman, mal über einem Gedichtband. Meistens aber las sie nur im |19| Himmel wie ein Analphabet. Sie verstand nicht, was er sagte, was welche Wolke bedeutete. Und empfand es als erlösend, so dumm sein zu dürfen. Mittags tranken alle drei zu Sülze oder kaltem Braten Grünen Veltliner, den sie mit nassen Tüchern umwickelt in den Luftzug stellten. Sie tranken kräftig, um danach die größte Hitze durchzuschlafen. Einen ganz anderen Schlaf als sonst. Dann arbeitete Mathildes Bruder zwei, drei Stunden, sein Schüler mindestens sechs.
Als sie zusammen nach Wien zurückfuhren, jeder um die drei Kilo schwerer, glänzend und braungebrannt, hatte Schönberg vier Lieder geschrieben und ein Streichsextett, das er »Verklärte Nacht« nannte, nach einem weiteren Gedicht von Mathildes Verehrer. Und hatte sie wortlos zu seiner Frau gemacht. Ob er sie der schwülen Nächte wegen so heftig begehrt hatte, in denen beide, die glitschigen Leiber aufeinander, sich fühlten wie glückliche Tiere, die keine Zeit und keine Sorgen kennen? Oder um ab und zu den Fängen seiner musikalischen Einfälle zu entkommen? Oder aber, was ihr im nachhinein am wahrscheinlichsten vorkommt, weil sie die Schwester seines verehrten Lehrers war? Damals war ihr das gleichgültig. Sie genoß es, endlich jemandes Geliebte zu sein und nicht nur die Frau, die alles anhörte und so ziemlich alles verstand. Mit Anfang Zwanzig demütigte es sie, dauernd zu hören: »… aber sie ist gescheit. Sehr gescheit.« Und dann legte keiner seine Hand auf ihren Schenkel, und keiner bat sie zum Ball. Und wenn sie mal einer nach Hause begleitete, dann gab er sie unten an der Tür ab wie eine geleerte Flasche.
Erst später wurde ihr bewußt, warum sie so willig gewesen war: Begehrt zu werden macht begehrlich. |20| Eine simple Rechnung. Selbst ein in ihren Augen uninteressanter Mann hätte sie allein dadurch erobert, daß er ihr verfiel, daß ihr weiblicher Dunstkreis ihm den Verstand umnebelte und ihn haltlos werden ließ. Diese natürliche Macht der Frau zu erleben hatte sie berauscht.
Fünfeinhalb Jahre ist all das her an jenem Tag, an dem sie den Geruch der nassen Mäntel aus dem Zimmer zu verscheuchen sucht und überlegt, wer wohl der Irre sein könne, von dem sie geredet haben. Fünfeinhalb Jahre, gedrängt voll mit Umzügen, Hoffnungen, Enttäuschungen, fünfeinhalb Jahre unablässiger Geldnot. Summend wie so oft räumt und wischt sie an diesem Nachmittag hinter Arnolds breitem Rücken. Tausendmal hat sie das getan. Und um drei hätte sie noch nicht geahnt, was ihr heute dabei schlagartig bewußt werden wird. »Was soll der Lärm?« schreit er auf wie ein Schwerverletzter.
»Verzeih«, flüstert sie, hebt die
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