Wahr
vor den Mandarinen und Kartoffeln. Und dann wuchs sie zur Panik. Aber wenn Martti die Trauer umarmte, fühlte er sich beinahe glücklich.
Die Schwalben waren dieses Jahr früh zurückgekehrt, schossen übermütig durch die wärmer werdende Luft. Hinauf hinunter, hinauf hinunter stürzten sie sich, ihre Schreie gellten vom Himmel. Er blieb noch eine Minute am Fenster stehen, dann noch eine, spürte eine müde Ruhe bis in die Hände und Füße sickern. Der Ruf der Amsel schien auch in ihm zu hallen, nicht nur am Himmel, die Grenze zwischen seinem Körper und der Außenwelt löste sich auf. In diesem Moment konnte Martti sich zum allerersten Mal seit Jahren vorstellen, wieder zu malen: den Himmel, Schwalben, Lichtflecken auf Wänden.
Er hatte das Ende seiner Karriere nicht bedauert, war auch ohne Malerei glücklich gewesen. Doch sein Arbeitszimmer auf dem Dachboden, im einzigen Turmzimmer des Hauses, wartete unverändert, wie ein Museum. Manchmal stattete er ihm einen Besuch ab, setzte sich in den Lehnstuhl, betrachtete den Sonnenuntergang, öffnete die Fenster, rauchte eine Zigarette. Im letzten Jahr hatte er dem Monatsmagazin der Zeitung Helsingin Sanomat ein ausführliches Interview gegeben. Auf den Fotos erstrahlte sein Profil im Gegenlicht. Unermüdlich strebt der Visionär nach dem perfekten Blick. Im Nachhinein bereute er das Interview. Er hatte sich zu pathetischen Aussagen hinreißen lassen und in den letzten Minuten versucht, seine Höhenflüge mit Selbstironie zu brechen, doch im gedruckten Text fand sich keine Spur von Ironie oder Humor. Übrig geblieben waren schwerfällige Sätze wie dieser: Die Kunst flieht vor dem Künstler wie die Wahrheit vor dem Menschen.
Blickte er auf seine Karriere zurück, musste er feststellen, dass er seine größten Erfolge, seine anerkanntesten Werke ein wenig banal fand – als hätte er sein ganzes Leben nur Sandburgen gebaut. Vielleicht hielt ihn dieser Verdacht auf Kindlichkeit schon so lange davon ab, wieder die Leinwand aufzuspannen und Farben zu mischen. Nicht einmal Skizzen hatte er angefertigt. Er tat rein gar nichts, um einen neuen Anfang zu finden. Hin und wieder nur ging er in das Turmzimmer, saß im Sessel und beobachtete, wie das Licht sich veränderte, mit den Minuten dahinschmolz, still in den Ecken des Zimmers verschwand. In solchen Augenblicken, wenn ihn der Zustand reiner Wahrnehmung befiel, war früher das Bedürfnis zu malen erwacht. Manche bezeichneten das als Inspiration, aber tatsächlich ging es um etwas weniger Großes, viel Natürlicheres. Genau darum waren die Interviews und Gespräche immer wieder gekreist. Journalisten, Biographen und Kuratoren hatten die ewig gleiche Frage nach der Inspiration formuliert, als sprächen sie von der Existenz Gottes.
Ihm fiel ein, wie er irgendwann in den Sechzigern an einem feucht-fröhlichen Kneipenabend einen befreundeten Kurator provoziert hatte: »Da gibt es nichts Mystisches! Ich vergesse mich einfach selbst, und im Gegenzug bekomme ich die ganze Welt.«
Nun war genau das wieder eingetreten, an diesen Abenden am Fenster, als er den Wolken und Vögeln zusah. Er bestand nur noch aus Wahrnehmung, aus reinem Blick. Dennoch, und das wunderte ihn, ließ ihn dieser Traum nicht los. Anfangs hatte er seine Vermutung noch beiseite geschoben. Als der Traum sich aber wiederholte, wurde er misstrauisch. Das Gefühl war zunächst nur eine schw ache Ahnung gewesen, nicht mehr als ein Geruch, genauso schwer fassbar wie das Bild eines Menschen, den man erst wenige Male gesehen hat und den man kaum kennt – an den man jedoch unweigerlich denken muss. Beim Aufwachen aus dem Traum hörte er den Nachhall eines leisen Lachens, spürte den Klang noch über sich schweben. Und jetzt ließ er die Erinnerung kommen. Die Frau in seinem Traum war nicht Elsa.
2.
ELEONOORA WACHTE AUF und blickte auf die Kante ihres Nachttisches. Sie schloss noch einmal die Augen, sah wieder ihre Mutter, als sie noch eine junge Frau war: Sie saß im Hochsommer auf einer Schaukel, Bäume beschatteten den Spielplatz, sie hatte die Schuhe abgestreift und Schwung geholt. Eleonoora war erst sechs Jahre alt und wunderte sich über die Ausgelassenheit ihrer Mutter, lachte dann. Die langen Haare ihrer Mutter wehten im Wind. Seltsam, wie lang sie auch jetzt waren. Trotz der Chemotherapie im Januar wuchsen sie dicht und schnell. Das könnte ein Zeichen für eine Remission sein, dachte sie. Sie würde mit dem betreuenden Arzt darüber
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