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Wahr

Wahr

Titel: Wahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Riikka Pulkkinen
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erinnerte sie sich an die strenge Miene ihrer Mutter, wenn sie sich als Kind bei Besuchen schlecht benahm. Ein Gesichtsausdruck wie eine Wand; sie fürchtete prompt, die mütterliche Zärtlichkeit und Zuneigung bis ans Lebensende verloren zu haben. Nachher in der Straßenbahn nahm ihre Mutter sie jedoch überraschenderweise auf den Schoß. Die weichen, leicht schwitzigen Frauenoberschenkel, Eleonooras eigene etwas feuchte Haut darauf. Die Dankbarkeit über die Zuwendung ihrer Mutter war so groß, dass sie in Tränen ausbrach. Als wäre es erst gestern gewesen, dass ihre Mutter eine Königin war, nach deren Gunst sie hungerte. Jetzt war ihre Mutter zänkisch, stellte Ansprüche wie ein Kind, hatte Widerworte, Launen. Mit ihrem Vater ging sie nicht so um, nur mit ihr.
    Eleonoora hatte nicht geahnt, dass die Rolle der Gebieterin sich so anfühlen würde, bestürzend einsam. Sie setzte sich aufs Sofa und sah quer durch den Raum auf ihre Tochter. Das Porträt, das ihr Vater von Anna gemalt hatte, hing in der Mitte der Wohnzimmerwand. Eleonoora verspürte bei seinem Anblick stets dieselbe Mischung aus Zärtlichkeit und Wehmut. Anna saß auf einem kleinen Hocker, eine nachdenkliche Weltenträgerin. Im Hintergrund leuchteten Apfelsinen, klar wie die Sonne. Ihr Vater hatte die Schatten in Annas linker Gesichtshälfte so stark herausgearbeitet, als wollte er den Unterschied zwischen Hell und Dunkel bewusst markieren. Das Gemälde besaß einen schwermütigen Zwilling in dunklerer Farbpalette; ihr Vater hatte ein Diptychon geplant. Allerdings wusste Eleonoora nicht, wo das zweite Bild hingeraten war. Gestern erst hatte sie sämtliche traurige Regungen in Annas Gesicht entdeckt, auch den versteckten Ernst aus der Kindheit.
    Elsa war gegen die geregelte Betreuung durch ihre Enkelinnen, wollte das palliative Stadium verschleiern und »spontane Besuche« empfangen. »Ihr kommt, wenn ihr Lust habt. Wir kochen Kaffee.«
    Anna meldete sich tapfer für die erste Schicht. Eleonoora hatte versucht, Anzeichen von Schrecken in ihrem Gesicht auszumachen. Ihre Tochter sah sie kurz an, verstand ihren Blick und nickte entschieden, stritt das Unbehagen ab. Eleonoora fiel wieder ein, wie Anna als Fünf­jährige beim Märchenballett losgeweint hatte, als sie einen Purzelbaum schlagen sollte. Ihr zitterndes Kinn, der hilflos suchende Blick. Dieser Gesichtsausdruck gehörte noch immer zu Anna, steckte irgendwo hinter der beherrschten Miene. Sie kannte die Ängste ihrer Tochter, auch die Trauer, von der kleinen bis zur großen.
    »Ich komme morgen«, hatte Anna wiederholt.
    Eleonoora konnte die Augen nicht von dem Bild an der Wohnzimmerwand lösen, Annas Gesicht, das aus dem Dunkel leuchtete. Ihre Tochter schien auf sie zuzuschweben. Sie beschloss davon auszugehen, dass Anna den Nachmittag mit ihrer Großmutter gut bewältigen würde, wollte sich nicht immerzu Sorgen machen. Man musste der Panik mit aller Kraft Einhalt gebieten.

3.
    ANNA STEHT IM Treppenhaus vor der Wohnungstür. Es ist ein ganz normaler Tag bei ihren Großeltern. Wie ein Sommertag aus vergangenen Zeiten, als sie sechs Jahre alt war. Oder wie auch der gestrige Tag, als es viel zu viel süßen Kuchen gab, sie die Furcht verscheuchte und heute zu kommen versprach. Es ist das Einzige, was sie für ihre Mutter tun kann. Mit jedem Tag sieht sie die Trauer ihrer Mutter schwerer werden, deutlicher hinter der Fassade aus Sachlichkeit glühen. Wenn sie sich unbeobachtet glaubt, legt sie manchmal ihre Maske ab; dann zeigt sich pure Hilflosigkeit. So wie gestern, als ihre Mutter das Kaffeegeschirr abgeräumt und in die Spülmaschine gestellt hat: Ihre Maske war fort. Ausgerechnet in diesem Moment schien es Anna, als seien ihre Arme amputiert. Wie gern hätte sie ihre Mutter umarmt. Ständig verspürt sie das Bedürfnis, ihre Mutter zu trösten, wie man ein Kind nach schlechten Träumen tröstet. Aber Anna findet keine Worte. Maria hat ihren Eifer, ihre hilfreichen Gesten und ungekünstelten Sätze. Doch Annas Trost ist ungeschickt, sie hat nichts als ihre sperrigen Arme, die die Umarmung schon auf halbem Wege verweigern.
    Anna ist zu Fuß von ihrer Wohnung in der Albertinkatu nach Töölö gelaufen, hat unterwegs bei Stockmann Mitbringsel für ihre Großmutter eingekauft. Der Tag ist hell. Eine Würstchenpappe an der Bordsteinkante, eine Möwe, ein Joghurtbecher, die üblichen geparkten Autos. Silbriges Licht, Sonne, die Rufe der Müllmänner, die Weite des Mai.
    Anna klingelt und hört die

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