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Wahrheit (Krimipreis 2012)

Titel: Wahrheit (Krimipreis 2012) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Temple
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einen dünnen, aus dem Bett gefallenen Arm, der Ellbogen weiß wie ein alter Knochen, die Fingernägel berührten fast den Teppich.
    Das Zimmer war eine Müllhalde – Klamotten, Taschen, Schuhe, Handtücher, kein Fußboden zu sehen.
    Er ging, um sie zu wecken, doch dann brachte er es nicht über sich. Lass sie schlafen, ich rede später mit ihr.
    Er schloss die Tür und verließ das Haus. Er wusste um seine Schwäche. Er wusste, er hätte sie wecken, mit ihr sprechen, seine Besorgnis zeigen, ihr ins Gewissen reden sollen. Was zum Teufel trieb Laurie in Queensland, während ihre Tochter verwahrloste?
    Am Tor beugte er sich aus dem Fenster und räumte den Briefkasten leer – Werbemüll, Rechnungen.

I n der gespenstischen Stadt sah er, wie die Zeitungsballen abgeladen wurden, sah die verlorenen Menschen, die Obdachlosen, die aus der Bahn Geworfenen, einen Mann und eine Frau, die auf dem Bordstein saßen und eine Flasche kreisen ließen, eine Gestalt mit ausgebreiteten Armen, Gesicht nach unten, in einer Pisspfütze, Leute, die Obst und Gemüse entluden, Männer, die in hartes weißes Fett und glänzende Membrane gehüllte Tierteile wuchteten, einen Straßenköter in einer Gosse, der irgendwas fraß, seinen grauen Krokodilschädel schlenkerte. Als Villani die Brücke überquerte, lichtete sich der Dunst und gab ein bleistiftdünnes Skiff frei, mit dem zwei Männer auf dem kalten Fluss einen Strich zogen.
    Er parkte, die Welt wartete auf ihn, keine freie Minute mehr, er saß mit gesenktem Kopf da. Etwa zur gleichen Zeit, als Laurie angefangen hatte, auf zwei oder drei Tage lange Werbedrehs zu verschwinden, war sie mit Lizzie schwanger geworden, aber ihm erzählte sie das erst, als sie schon mitten im vierten Monat war. Lizzie war etwa fünf, als Villani auffiel, dass sie weder ihm noch Laurie ähnlich sah.
    Er war ihr kein besonders toller Vater gewesen.
    Corin und Tony war er auch kein besonders toller Vater gewesen. Ans Vatersein hatte er nie einen Gedanken verschwendet. Er war nicht bereit gewesen zu heiraten, vom Kinderkriegen ganz abgesehen. Er ging arbeiten, zahlte die Rechnungen. Laurie übernahm das Hinbringen und Abholen, kümmerte sich um den Schulkram, machte sich Sorgen wegen Fieber,
Husten, Schmerzen, Halsweh, einem gebrochenen Handgelenk, ausgeschlagenen Zähnen, Elternabenden, Zeugnissen, Mobbing. Sie erzählte es ihm, er hörte mit halbem Ohr zu, grunzte irgendwas, ging zur Tür hinaus oder schlief dabei ein.
    Er hatte sich um Kinder gekümmert. Er hatte seinen Beitrag geleistet. All die Jahre, die er Mark und Luke versorgt hatte, »sie versorgt« war die Formulierung seines Vaters gewesen, Pferde, Hunde, Hühner musste man versorgen – hilflose Wesen, die litten und starben, wenn man sie nicht versorgte.
    Mark hatte die Gene seine Mutter abbekommen, die Gene einer Lehrerin, nicht die von Bob Villani, dem Sohn eines Wildpferdejägers, der mit vierzehn die Schule geschmissen hatte, in Heeresbaracken untergekommen war, seine Berufung darin gefunden hatte, in Vietnam Menschen umzubringen. Luke war etwas anderes. Dessen Mutter war eine Matratze namens Ellen gewesen, der Bob Villani in Darwin ein Brötchen in die Röhre geschoben hatte. Eines Tages im Juli traf sie kurz vor Dunkelwerden in einem Taxi auf der Farm ein, enge Hose, rot gefärbte Haare.
    Sie waren allein, sie beide, Bob war unterwegs, damals fuhr er die Strecke Melbourne – Brisbane, blieb die ganze Woche weg, kam nach Hause, fünf, sechs Bier, eine Pfanne Rühreier, einen halben Laib Brot, dann schlief er durch bis samstags gegen neun Uhr, Gesicht nach unten. Von Sonnenaufgang an ging Mark alle zehn Minuten in sein Zimmer und suchte nach Zeichen dafür, dass er noch atmete, sah nach, ob er nicht vielleicht aufwachte.
    Am Montagmorgen fuhr Bob Villani noch vor Sonnenaufgang los, betätigte am Tor einmal die Drucklufthupe, Geld lag auf dem Küchentisch.
    »Er ist nicht da«, sagte Villani.
    »Wann kommt er wieder?«, fragte sie.

    »Weiß nicht genau«, sagte Villani.
    Sie sah Mark an, der hinter ihm stand, dann wieder Villani. »Seit ihr seine Kids?«, sagte sie mit ihrer schrillen Stimme.
    Sie nickten. Sie wedelte das Taxi weg.
    »Hab euch euern Halbbruder mitgebracht«, sagte sie.
    Luke kam hinter ihr hervor, ein dickes Scheißerchen, lange Haare. Die ersten drei Tage lang jammerte er, sie schlug ihn, er brüllte, sie küsste und umarmte ihn, er fing wieder an zu jammern.
    Bob Villani kam Freitagabend kurz vor neun zurück. Mark, Ellen und

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