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Wahrheit Meines Vaters, Die: Roman

Wahrheit Meines Vaters, Die: Roman

Titel: Wahrheit Meines Vaters, Die: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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anfängt zu rasen. »Du kommst jetzt sofort her.«
    Ich werfe einen Blick auf Ruthanns Trailer, in dem Sophie in den letzten Wochen so oft war.
    Greta kriecht unter den Stufen des Trailers hervor, wo sie im Schatten gelegen hat. Sie blickt zu mir hoch und winselt. »Weißt du, wo sie steckt?«
    Ich frage die Nachbarn, von denen ich bisher kaum jemanden zu Gesicht bekommen habe, nach Sophie. Ich stelle den Trailer noch einmal auf den Kopf. Ich gehe wieder vor die Tür und rufe aus vollem Hals nach ihr.
    Wie schwer ist es, ein Kind zu entführen, wenn niemand hinsieht?
    Plötzlich höre ich die Stimme meiner Mutter im Zeugenstand: Können Sie ehrlich behaupten, daß Sie noch nie im Leben einen Fehler gemacht haben ?
    Ich fische mit zitternden Händen mein Handy aus der Handtasche und rufe Eric an. »Ist Sophie bei dir?«
    Er ist in Gedanken noch ganz woanders, das höre ich seiner Stimme an. »Was soll sie denn hier in der Kanzlei?«
    »Dann ist sie verschwunden«, sage ich und kämpfe gegen die Tränen.
    Einen Moment ist er stumm. »Was soll das heißen, verschwunden?«
    »Ich bin eingeschlafen. Und als ich wach wurde ... war sie nicht mehr da.«
    »Ruf die Polizei an«, befiehlt Eric. »Ich komme sofort.«
    Die Polizei will wissen, wie groß Sophie ist, wieviel sie wiegt. Ob sie ein blaues T-Shirt trägt oder ein gelbes. Ob ich die Marke ihrer Turnschuhe kenne.
    Ihre Fragen schnüren mir den Hals zu. Ich kann keine einzige eindeutige Antwort geben. Ich weiß nicht genau, ob Sophie heute ein blaues T-Shirt anhatte oder ob das gestern war. Ich habe sie auch schon länger nicht mehr gemessen oder gewogen. Ich weiß, daß ihre Turnschuhe rosa sind, aber ich kann nicht sagen, von welcher Marke.
    Die Einzelheiten, die ich nennen kann, wären keine Hilfe, ein verschwundenes Kind zu finden, aber sie sind unauslöschlich auf mein Herz tätowiert: das Grübchen, das Sophie nur in einer Wange hat; die Größe der Lücke zwischen ihren Vorderzähnen; das Muttermal mitten auf dem Rücken; der Klang ihrer Stimme, wenn sie in der Nacht nach mir ruft; der Stein, den sie in der Tasche bei sich hat, weil er in der Sonne wie Gold funkelt. Ich kann sagen, daß sie gerade so groß ist, um den oberen Türrahmen zu berühren, wenn sie auf meinen Schultern sitzt. Ich könnte ihr Gewicht schätzen, anhand des Gefühls, das mir in den Armen fehlt.
    Eric sitzt auf den Trailerstufen und beantwortet Fragen. Er hat die Krawatte abgenommen, trägt aber noch den Anzug, den er im Gericht anhatte. Ich sehe, daß einige Nachbarn uns von der Veranda oder vom Fenster aus beobachten. Ich frage mich, ob sie wissen, wer wir sind, ob sie sich über die Absurdität dessen, was hier abläuft, im klaren sind.
    Der Detective, der mit Eric spricht, hat seinen Notizblock wieder eingesteckt. »Sic bleiben am besten hier, Mr. Talcott«, sagt er. »Falls Sophie von allein zurückkommt. Wir leiten eine Sofortfahndung ein.«
    Ich beobachte ihn, während er die Informationen, die wir ihm liefern konnten, über Funk durchgibt, ich höre ferne Sirenen. Hat sich meine Mutter auch so gefühlt, als ihr klar wurde, daß ich vermißt bin? Als ob ihr innerster Kern entfernt worden wäre; als ob der Planet mit einem Mal viel größer wäre als je zuvor?
    Ich kann mich nicht darauf verlassen, daß die Polizei mein Kind findet. Ich kann mich auf niemanden verlassen.
    Ich warte, bis der Detective die Nachbarn befragt, und dann pfeife ich Greta zu mir. »Lust auf ein bißchen Arbeit, mein gutes Mädchen?« raune ich ihr zu und kraule sie zwischen den Ohren.
    Eric steht auf. »Delia«, sagt er. »Was hast du vor?«
    Statt zu antworten, streife ich Greta das Ledergeschirr über. Es interessiert mich nicht, ob sich Polizeibeamte, die ich nicht kenne, auf den Schlips getreten fühlen. Auch die Anweisung, wir sollen am Trailer bleiben, interessiert mich nicht. Ich weiß nur, daß es mein Fehler war, ich hätte nicht einschlafen dürfen. Das ist der entscheidende Unterschied zwischen mir und meiner Mutter: Ich werde länger und intensiver nach meiner Tochter suchen als irgendwer anderes auf der Welt.
    Bei der Aussicht auf eine Suchaktion bebt Greta am ganzen Körper. »Ich bin ihre Mutter«, sage ich zu Eric, weil das in einer vollkommenen Welt als Erklärung reichen sollte.
    Falls Sophie in einem Auto weggebracht wurde, werde ich nicht weit kommen. Dann gäbe es allenfalls eine Fährte, wenn zufällig ein Fenster offen gewesen wäre. Aber als ich Greta an Sophies Kopfkissen schnuppern

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