Wahrheit Meines Vaters, Die: Roman
»Ich wollte unbedingt jemand sein, den es gar nicht wirklich gab, weil er eben diesen Menschen liebte.«
Sie beugt sich vor und richtet den Kragen meiner Bluse. Es ist eine so mütterliche, so intime Geste, daß ich zutiefst verblüfft bin. Dann greift sie in ihre Tasche und legt etwas in meine Hand.
Es ist ein kleiner, zugenähter roter Stoffbeutel, und er brennt mir auf der Haut. Plötzlich rieche ich das überreife Fruchtfleisch von Mangos und sonnenflecki-gen Tomaten auf einem mexikanischen Mercado; ich schmecke das bittere Blut unzähliger Babys, die geboren werden. Ich sehe die Verkäufer Schulter an Schüller, wie sie Que le damos? rufen. Ich sehe eine alte Frau auf einer Decke neben der Statue einer Eule knien, aus deren Schnabel eine Kerze wächst. Ich sehe Leguane so lang wie meine Beine und Tarot-Karten in Plastik eingeschlagen und Schlüsselanhänger aus den Halskno-chen von Klapperschlangen. Ich rieche Urin und gerö-steten Mais und den lächelnden roten Mund einer Wassermelone. Mir wird klar, es ist die Welt meiner Mutter, so wird mir klar, und ich halte sie hier in der Hand.
Ich starre darauf. »Ich will deine Hilfe nicht«, sage ich.
Meine Mutter schließt meine Finger um den winzigen Beutel. »Nein, aber vielleicht dein Vater.«
Orwell LeGrande, ehemaliger Detective bei der Polizei von Scottsdale, lebt seit fünfzehn Jahren im Ruhestand auf einem Hausboot mitten auf dem Lake Powell. Seine Haut ist braun gegerbt wie Cowboystiefelleder. Seine Hände sind mit Altersflecken übersät wie ein Leopardenfell. »1977«, erwidert er auf die Frage der Staatsanwältin, »war ich im Dezernat für Gewaltdelikte.«
»Hatten Sie Kontakt zu Elise Matthews?«
»Am 20. Juni, als sie anrief und ihre Tochter als vermißt meldete, hatte ich Dienst. Ich bin sofort mit einigen Kollegen zu der Wohnung des Angeklagten gefahren. Als wir dort eintrafen, stand Mrs. Matthews unter Schock, den Eindruck machte sie. Ihr Exmann hätte die gemeinsame Tochter, die bei ihm das Wochenende verbracht hatte, tags zuvor um spätestens siebzehn Uhr zurückbringen müssen, hatte es aber nicht getan.«
»Was haben Sie daraufhin unternommen?« fragt Emma.
»Ich habe in den Krankenhäusern der Stadt nachgefragt, ob irgendwo Vater und Tochter eingeliefert worden waren. Aber das war nicht der Fall. Dann habe ich bei den Kollegen nachgefragt, ob der Wagen des Angeklagten als gestohlen gemeldet worden war oder vielleicht in einen Unfall verwickelt worden war. Eine Durchsuchung der Wohnung erhärtete den Verdacht, daß wir es mit einer Kindesentführung zu tun haben könnten.«
»Was geschah dann?«
»Ich leitete eine Fahndung nach dem Wagen und den beiden Personen ein.«
»Detective, was für Maßnahmen haben Sie sonst noch ergriffen, um den Angeklagten zu finden?«
»Wir haben seine Kreditkarte überwacht, aber er war schlau genug, nur noch bar zu bezahlen. Und wir haben sein Bankkonto eingesehen.«
»Mit welchem Ergebnis?«
»Es war am 17. Juni aufgelöst worden, mit einer Auszahlung von 10.000 Dollar in bar.«
Emma läßt eine Sekunde verstreichen. »Erinnern Sie sich, was der 17. Juni für ein Wochentag war?«
LeGrande nickt. »Ein Freitag.«
»Das heißt also«, sagt Emma, »der Angeklagte hat an dem Freitag vor dem planmäßigen Besuch seiner Tochter 10.000 Dollar von seinem Konto abgehoben und das Konto aufgelöst?«
»Das ist richtig.«
»War das für Sie als erfahrener Detective ein wichtiges Detail?«
»Unbedingt«, sagt LeGrande. »Es war für mich das erste Indiz dafür, daß Charles Matthews geplant hatte, seine Tochter zu entführen.«
Rubio Greengates Kopf sieht aus, als wäre er voller Schlangen. Cornrows in verrückten Streifen und Mustern laufen in langen Strängen aus, die ihm bis zur Taille fallen. Mit seinen zwei Vorderzähnen aus massivem Gold und seiner weiten schwarzen Hose und Weste sieht er aus wie ein moderner Pirat. Er lümmelt sich im Zeugenstand, während Emma Wasserstein vor ihm auf und ab schreitet. »Mr. Greengate«, sagt sie.
»Nennen Sie mich Rubio, Süße.«
»Besser nicht«, erwidert die Staatsanwältin. »Inwiefern haben Sie mit diesem Fall zu tun?«
»Ich habe den Bericht in den Nachrichten gesehen, und ich hab gesagt, den Typ kenn ich doch.«
»In welcher Branche sind Sie tätig, Mr. Greengate?«
Er läßt ein Lächeln aufblitzen. »Ich bin auf dem Markt der Neuerfindung tätig, Süße.«
»Bitte erklären Sie den Geschworenen, was Sie damit meinen«, sagt Emma.
Er lehnt sich auf
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