Wahrheit Meines Vaters, Die: Roman
schlimmstenfalls suggeriert man ihm, daß er lügen soll, damit man wenigstens den Anschein einer Strategie hat.
»Andrew«, sage ich vorsichtig, »ich habe mir die Anklagepunkte gegen dich angesehen, und es gibt eine Verteidigungsstrategie, mit der wir es versuchen könnten. Sie besteht darin, daß du sagst, Delias Lebensumstände damals waren so schlimm, daß du keine andere Möglichkeit hattest, als mit ihr unterzutauchen. Doch damit das funktioniert ... mußt du auch nachweisen, daß du keine alternativen legalen Mittel hattest, das Problem zu lösen.« Ich lasse Andrew einen Moment Zeit, die Information zu verarbeiten. »Delia hat mir erzählt, daß deine Exfrau Alkoholikerin ist. Vielleicht hat das ja ihre Fähigkeit beeinträchtigt, eine gute Mutter zu sein ...?«
Andrew nickt langsam.
»Vielleicht hast du deshalb geglaubt, es wäre besser, du hättest das Sorgerecht...?«
»Na, hättest du etwa nicht -«
Ich hebe eine Hand. »Hast du die Polizei eingeschaltet? Oder das Jugendamt? Hast du versucht, das Sorgerecht gerichtlich neu regeln zu lassen?«
Andrew rutscht unbehaglich hin und her. »Ich hab es in Erwägung gezogen, aber dann hab ich gedacht, das bringt nichts.«
Meine Zuversicht sinkt. »Wieso nicht?«
»Ich hab doch diese Vorstrafe, wegen Körperverletzung -«
»Was war das für eine Geschichte?«
Er zuckt die Achseln. »Nichts. Eine blöde Schlägerei. Aber ich mußte die Nacht in der Arrestzelle verbringen. Damals haben die Gerichte automatisch der Mutter das Sorgerecht zugesprochen, auch wenn der Vater eine blütenweiße Weste hatte. Ein Vater, der kein unbeschriebenes Blatt war, konnte sich von vornherein jedes Recht auf sein Kind abschminken.« Er blickt auf. »Ich hatte Angst, daß sie mir aufgrund meiner Vorstrafe womöglich sogar das Besuchsrecht entziehen, wenn ich auf gerichtlichem Wege etwas gegen Elise unternehme. Das alleinige Sorgerecht hätte ich nie im Leben bekommen.«
Ein entschuldigender Notstand setzt voraus, daß dem Angeklagten keine rechtliche Alternative mehr zur Verfügung stand, aber davon kann in Andrews Fall keine Rede sein. Er hatte es auf legalem Weg nicht einmal probiert, ehe er in gewisser Weise Selbstjustiz übte. Doch statt ihm zu sagen, wie schädlich das für seinen Fall ist, nicke ich bloß. Die erste Regel für einen Strafverteidiger lautet, seinen Mandanten in dem Glauben zu lassen, daß es immer ein Licht am Ende des Tunnels gibt.
Im Grunde genommen unterscheidet sich die Beziehung zwischen einem Angeklagten und einem Anwalt gar nicht so sehr von der zwischen einem Kind und einem alkoholkranken Elternteil.
»Es ist ja nicht so, daß ich es nicht versucht hätte«, sagt Andrew. »Monatelang habe ich mich an die Regeln gehalten. Sogar an dem Tag, als ich abgehauen bin, sind wir vorher noch bei ihr zu Hause vorbei.«
Mein Kopf fährt hoch; das höre ich zum ersten Mal. »Wie bitte?«
»Beth hatte ihre Schmusedecke vergessen, die sie überall mit hinnahm, und ich wußte, ohne die wäre sie das ganze Wochenende unglücklich. Also sind wir zurückgefahren. Das Haus war ein einziger Saustall -in der Küche stapelte sich das schmutzige Geschirr, und auf der Arbeitsplatte verrotteten Reste von Lebensmitteln. Der Kühlschrank war leer.«
»Wo war Elise?«
»Im Wohnzimmer, sinnlos betrunken.«
Vor meinem geistigen Auge blitzt das Bild der Frau auf, wie sie mit dem Gesicht nach unten auf der Couch liegt, einen Arm auf dem Boden hängend, und ich kann förmlich den Bourbon riechen, der aus der umgekippten Flasche ins Polster sickert. Doch in meinem Bild ist die Frau nicht schwarzhaarig, wie Elise Vasquez es war, als ich sie im Gerichtssaal gesehen habe. Sie ist blond, und sie hat eine orangefarbene Caprihose an, wie meine Mutter sie oft trug.
Alle meine Erinnerungen an meine Mutter riechen nach Alkohol - sogar die schönen, wenn sie sich runterbeugte, um mir einen Gutenachtkuß zu geben, oder mir vor meiner High-School-Abschlußfeier die Krawatte richtete. Ihre Krankheit war ein Parfüm, eines, in das ich mich als Kind hineinlehnte und das ich als Erwachsener unbedingt haben wollte. Wenn ich fünf Kindheitserinnerungen aufzählen sollte, so geht's bei dreien davon wahrscheinlich um irgendein Fiasko, für das die Alkoholsucht meiner Mutter verantwortlich war: das Treffen meiner Pfadfindergruppe bei uns zu Hause, als sie sternhagelvoll in Unterwäsche durchs Zimmer tanzte; der Leichtathletikwettbewerb an meiner Schule, den sie komplett verschlief; der
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