Wahrheit Meines Vaters, Die: Roman
ein paar Monate warten können?« Entnervt nehme ich eines der Fachbücher und pfeffere es durch den Raum, wobei ich knapp Chris verfehle, der in diesem Moment hereinkommt.
»Was ist denn mit dir los?« fragt er. »Mein Mandant ist ein Idiot.«
»Klar ist er das. Sonst bräuchte er wohl keinen Anwalt.« Chris nimmt mir gegenüber Platz und lehnt sich zurück. »Junge, du hast gestern abend was verpaßt. Im Frantic Gecko war die Hölle los! Jede Menge abgefahrene Leute.« Er lächelt. »Ich weiß, ich weiß. Du bist so gut wie verheiratet. Aber trotzdem. Hast du ein Aspirin?«
Ich schüttele den Kopf.
»Dann brauch ich unbedingt einen Kaffee. Nimmst du Milch oder Zucker?« »Ich trinke keinen -«
»Bin schon unterwegs«, sagt Chris und verschwindet aus dem Raum.
Ich breche in Schweiß aus. Verlangen kann derart gewaltige Ausmaße annehmen, daß es die Vernunft beiseite schiebt und ich ohne es eigentlich zu merken das Getränk an den Mund führe.
Um mich von dieser Vorstellung abzulenken, blättere ich das Arizona-Gesetzbuch auf der Suche nach mildernden Umständen bei Entführung durch und werde schließlich fündig.
§13-417. Entschuldigender Notstand. Ein normalerweise rechtswidriges Verhalten ist dann gerechtfertigt, wenn ein Mensch zu diesem "Verhalten gezwungen wird, weil nur so eine größere Gefahr für die Öffentlichkeit oder für Leib und Wohl eines anderen Menschen abgewendet werden kann.
Mit anderen Worten: Ich mußte es tun.
Eine alkoholkranke Ehefrau ist kein Grund, ein Kind zu stehlen. Wenn ich allerdings beweisen kann, daß Elise Alkoholikerin war, daß sie sich nicht um das Kind kümmern konnte, daß Andrew sich hilfesuchend an das Jugendamt oder die Polizei gewandt hat und die Behörden nicht ausreichend reagiert haben, nun, dann besteht für ihn durchaus die Chance auf einen Freispruch. Die Geschworenen könnten zu der Uberzeugung gelangen, daß Andrew alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft hatte, daß ihm nichts anderes übrigblieb, als seine Tochter zu nehmen und das Weite zu suchen ... vorausgesetzt, Andrew kann zunächst mal mich überzeugen.
Chris kommt zurück in den Konferenzraum. »Bitte schön«, sagt er und schiebt mir die Tasse über den Tisch. »Frühstück für Champions. So, wenn du mich jetzt bitte entschuldigst, ich such mir einen Arzt, der mir chirurgisch den Kopf entfernt.«
Sobald er gegangen ist, gehe ich zu der dampfenden Kaffeetasse. Es ist Jahre her, seit ich zuletzt einen Schluck genommen habe, und ich habe noch immer den wunderbaren bitteren Geschmack auf der Zunge. Ich hole tief Luft. Dann werfe ich den Kaffee samt Tasse in den Abfalleimer.
Der Aufseher im Besucherbereich der Haftanstalt nickt mir zu. »Nehmen Sie irgendeinen leeren«, sagt er. Es ist ein ruhiger Morgen. Die Türen sind alle geschlossen, und die Lampen aus. Ich öffne die erste Tür rechts, schalte das Licht an - und sehe einen Häftling, die gestreifte Hose heruntergelassen, der sich mit seiner Anwältin auf dem Resopaltisch des Besprechungsraumes verlustiert. »Verdammt«, sagt er und greift hektisch nach seiner Hose. Die Frau blinzelt in der plötzlichen Helligkeit, zieht sich den engen Rock nach unten und stößt dabei einen Karton mit Akten um.
»Lassen Sie mich raten«, sage ich heiter zu der Kollegin. »Pro-Bono-Mandat?«
Ich entschuldige mich und nehme den nächsten Raum, wo ich auf Andrew warte. Als er hereinkommt, habe ich noch in Gedanken an das Pärchen nebenan ein Schmunzeln auf den Lippen. »Was ist so lustig?« fragt Andrew.
Vor einer Woche hätte ich ihm die Episode beim Nachtisch erzählt. Aber Andrew trägt die gleiche gestreifte Kluft wie der Mann nebenan, und das ist ernüchternd. »Nichts.« Ich räuspere mich. »Hör mal, wir müssen über den Fall reden.«
Wenn man einem Mandanten eine Verteidigungsstrategie vorschlägt, die ihm einen Freispruch oder zumindest Strafmilderung bescheren könnte, gibt es einen richtigen und einen falschen Weg. Man erklärt ihm praktisch, wo der Notausstieg ist, und sagt dann: »Hmm, wenn du eine Leiter hättest, um da raufzukommen, wärst du aus dem Schneider« - und man hofft, daß der Mandant so clever ist, von sich aus zu sagen, daß er tatsächlich eine Leiter versteckt in der Brusttasche hat. Man muß den Geschworenen gegenüber lediglich andeuten, daß eine Leiter vorhanden ist, man muß sie ihnen nicht präsentieren. Manchmal kapiert der Mandant das, manchmal nicht. Bestenfalls manipuliert man damit einen Hauptzeugen;
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