Wahrheit Meines Vaters, Die: Roman
und ich rückte ihr unwillkürlich so nah ich konnte, wenn sich die Gelegenheit bot, nur um tief einzuatmen.
Ich stellte mir in Sondras Gegenwart Dinge vor, die mir vorher nie in den Sinn gekommen waren: Wie man die Geduld aufbringen könnte, alle Sterne zu zählen. Ob es körperlich weh tat, alt zu werden. Und ich dachte über das Küssen nach: Ob ihre Lippen den Abdruck meiner Lippen bewahren würden. Ich sprach nicht mit ihr, weil das alles so viel größer war als Worte.
Ich ging gerade neben Sondra her, als sie sich plötzlich in ein Kaninchen verwandelte und davonhoppelte, unter der Hecke vor unserem Haus verschwand.
Als ich am nächsten Morgen aus meinem Traum erwachte, spielte es keine Rolle, daß das Mädchen gar nicht existiert hatte, daß ich nicht bei Bewußtsein war, als mein Geist sie heraufbeschworen hatte. Ich merkte, daß ich weinte, als ich die Milch aus dem Kühlschrank nahm. Ich schleppte mich von einer Minute zur nächsten. Ich saß stundenlang auf dem Rasen und hielt nach einem Kaninchen Ausschau.
Manchmal wissen wir nicht, daß wir träumen, wir begreifen nicht mal, daß wir schlafen.
Ich denke noch immer an sie, ab und an.
Unsere erste Woche in Arizona vergeht langsam. Ich arbeite mich mehr und mehr in den Fall ein, studiere die Akten, die mir die Staatsanwaltschaft offenlegen mußte. Die Umgebung scheint die Erinnerungen in Delia zu wecken, denn ihr fällt immer mehr aus ihrer Kindheit ein - aber es bringt sie meist zum Weinen. Sie bringt einige Male den Mut auf, ihren Vater zu besuchen. Sie unternimmt lange Spaziergänge mit Sophie und Greta.
Eines Morgens wache ich auf und sehe, daß Ruthanns Trailer brennt. Rauch wabert in einer dichten, grauen Wolke über das Dach, als ich durch die Vordertür stürze und nach meiner Tochter schreie, die zur Zeit öfter dort ist als bei uns. Aber im Innern sind keine Flammen, nicht einmal Rauch. Und von Sophie und Ruthann ist ebenfalls nichts zu sehen. Ich renne um den Trailer herum in den Garten. Ruthann sitzt auf einem Baumstumpf, Sophie zu ihren Füßen. Der graue Rauch, den ich gesehen habe, kommt von einem kleinen Lagerfeuer. In der Mitte des Feuers ist eine dünne Steinplatte auf Ziegeln aufgebockt. Ein Tropfen Wasser auf der heißen Platte faucht und tanzt. Ruthann blickt nicht zu mir auf, sondern nimmt eine Schüssel, die mit blauem Teig gefüllt ist, und gibt einen Schöpflöffel davon auf den Stein. Mit der flachen Hand verteilt sie den Teig auf der sengend heißen Oberfläche und streicht ihn so dünn es geht zu einem runden Fladen.
Während der Teig fest wird, nimmt Ruthann eine hauchdünne Tortilla von einem Teller neben sich und legt sie auf die Teigscheibe, die noch auf der Platte backt. Sie klappt die Seiten ein und rollt die Scheibe zu einer kleinen Rolle auf, die sie mir reicht. »Ein Schoko-muffin ist es nicht«, sagt sie.
Es sieht aus wie blasses, blaues Pauspapier. Und schmeckt auch so ähnlich. Es bleibt an meinem Gaumen kleben. »Was ist da drin?«
»Blauer Mais, Salbei, Wasser. Ach ja, und Asche«, fügt Ruthann hinzu. »Piki ist nicht nach jedermanns Geschmack.«
Aber meine Tochter - die Nudeln mit Käse nur dann ist, wenn die Nudeln gerade sind, nicht geringelt, die darauf besteht, daß ich ihre Erdnußbutter-Gelee-Sandwiches diagonal durchschneide und bloß nicht in der Mitte - stopft sich das Piki in den Mund, als wäre es Kuchen.
»Siwa hat mir gestern geholfen, das Maismehl zu mahlen«, sagt Ruthann.
»Siwa bedeutet Sophie«, fügt Sophie hinzu.
»Es bedeutet >jüngste Schwester<«, berichtigt Ruthann, »das bist noch immer du.« Sie verteilt wieder mit der Hand eine Teigscheibe auf dem heißen Stein, läßt ihn kurz anbacken und wendet ihn dann gekonnt.
»Erzähl die Geschichte zu Ende, Ruthann.« Sophie wirft mir über die Schulter einen Blick zu. »Du hast uns unterbrochen.«
»Entschuldigung.«
»Sie handelt von einem Kaninchen, dem zu heiß wurde.«
Sondra, denke ich.
Ruthann klappt wieder ein Stück Piki zusammen, wickelt es in ein Stück Küchenpapier ein und reicht es Sophie. »Wo war ich stehengeblieben?«
»Bei der Großen Hitze«, sagt Sophie. »Die Tiere waren alle ganz schlapp.«
»Ja, und Sikyätavo, Kaninchen, erging es am schlimmsten. Sein Fell war verkrustet von der roten
Erde aus der Wüste. Seine Augen waren so trocken, daß sie brannten. Es wollte der Sonne eine Lektion erteilen.«
Sie faltet ein weiteres Piki zusammen. »Und so lief Kaninchen los zum Rand der Welt, wo die Sonne
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