Wahrheit Meines Vaters, Die: Roman
jeden Morgen emporstieg. Unterwegs übte es fleißig mit Pfeil und Bogen. Doch als es dort ankam, hatte die Sonne den Himmel verlassen. Kaninchen fand das feige, doch es beschloß zu warten, bis die Sonne am nächsten Tag wiederkam. Die Sonne aber hatte gesehen, wie Kaninchen schießen geübt hatte und beschloß, sich einen kleinen Spaß zu erlauben. In der damaligen Zeit kam die Sonne nicht so langsam hoch wie heute. Sie sprang mit einem Satz an den Himmel. Als der nächste Tag anbrach, rollte die Sonne sich weit weg von der Stelle, an der sie normalerweise an den Himmel sprang, und machte dann einen großen Satz. Bis Kaninchen seinen Pfeil und Bogen schußbereit hatte, stand sie längst so hoch am Himmel, daß ihr nichts mehr anzuhaben war. Kaninchen stampfte mit dem Fuß auf und schimpfte, aber die Sonne lachte nur.«
»Eines Morgens«, fuhr Ruthann fort, »war die Sonne unvorsichtig. Sie sprang behäbiger als sonst, und Kaninchens Pfeil bohrte sich in ihre Seite. Kaninchen freute sich sehr! Es hatte die Sonne getroffen! Doch als es wieder aufschaute, sah es, wie Flammen aus der Wunde bluteten. Plötzlich schien die ganze Welt zu brennen.«
Ruthann steht auf. »Kaninchen lief zu einer Pappel und dann zu einem Greasewood-Baum, aber die beiden wollten es nicht verstecken - sie hatten große Angst, geröstet zu werden. Doch auf einmal hörte Kaninchen eine Stimme rufen: >Sikyätavo! Versteck dich unter mir! Schnell!< Es war ein kleiner, grüner Busch mit Blüten wie Baumwolle. Kaninchen kroch im letzten Augenblick unter den Busch, als die Flammen auch schon darüber hinwegsprangen. Alles knisterte und zischte, und dann wurde es still.« Ruthann blickt Sophie an. »Die Erde drum herum war schwarz verkohlt, aber das Feuer war aus. Und der kleine Busch, der Kaninchen gerettet hatte, war nicht mehr grün, sondern dunkelgelb. Noch heute wachsen diese Büsche grün und werden gelb, wenn sie die Sonne spüren.«
»Was ist mit Kaninchen passiert?« fragt Sophie.
»Es hat sich sehr verändert. Es hat braune Flecken auf dem Fell, wo das Feuer es verbrannt hat. Und es ist auch nicht mehr so draufgängerisch, weißt du. Es läuft weg und versteckt sich, statt zu kämpfen. Auch die Sonne ist nicht mehr die alte«, sagt Ruthann. »Sie leuchtet jetzt so grell, daß keiner sie lange genug anschauen kann, um auf sie zu schießen.«
Ruthann läßt die Fingerknöchel knacken. Silberne und türkisfarbene Ringe blinken. »Komm, wir räumen auf«, sagt sie zu Sophie, »und wenn dein Dad nichts dagegen hat, nehm ich dich mit zu dem Flohmarkt in der Nähe, mal sehen, ob wir was Brauchbares finden.«
Sophie läuft ins Haus, läßt mich mit Ruthann allein. »Sie müssen sie nicht mitnehmen.«
»Ich finde es schön, ein Kind hier zu haben, dem ich Geschichten erzählen kann.«
»Haben Sie eigene Kinder?«
Ein Schatten legt sich über Ruthanns faltiges Gesicht. »Ich hatte eine Tochter.«
Vielleicht lassen wir uns ja alle in zwei Gruppen einteilen: Diejenigen, die das Glück haben, ihre Kinder zu behalten, und diejenigen, denen sie weggenommen werden. Ehe ich angemessen reagieren kann, kommt Sophie aus dem Haus und zieht einen Eimer mit Sand hinter sich her. Sie schüttet den Sand aufs Feuer, um die Glut zu ersticken, und eine kleine Rußwolke steigt ihr um die Knie.
»Soph«, sage ich, »wenn du schön brav bist, darfst du noch etwas bei Ruthann bleiben.«
»Natürlich ist sie brav«, sagt Ruthann. »Da, wo ich herkomme, auf der Zweiten Mesa, suchen die Großmütter für die Kinder die Namen aus, und von den Großvätern lernen sie gutes Benehmen. Die Kinder, die nicht brav sind, haben keinen Großvater. Und du hast doch einen Großvater, nicht wahr, Siwa?« Sie reicht Sophie die Schüssel mit dem Rest Teig. »Küchenspüle«, sagt sie zu ihr.
Die Sonne steht jetzt so hoch, daß sie mir im Nacken brennt. Ich muß an Kaninchen und seinen Pfeil denken. »Danke, Ruthann.«
Sie schenkt mir ein halbes Lächeln. »Immer schön das Ziel im Auge behalten, Sikyätavo«, sagt sie warnend und folgt Sophie in den Trailer.
Wenn ein Mann im Jahre 1977 seine Tochter heimlich in einen anderen Teil des Landes schaffte, galt das als Kidnapping. 1978, nur ein Jahr später, hatte sich die Gesetzeslage geändert, und demselben Mann wurde wegen derselben Tat lediglich ein Sorgerechtsverstoß zur Last gelegt. »Herrgott, Andrew«, murmele ich, während ich in meinem geborgten Konferenzraum bei Hamilton über den Büchern brüte. »Hättest du nicht
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