Wald aus Glas: Roman (German Edition)
wach, fiel ihr ein, weil ich vorsichtig sein muss. Sie ließ die Augen geschlossen, als würden hinter ihren Lidern die Waffen geschmiedet, um gegen ihren Onkel anzukommen. Dann gab sie sich einen Ruck, machte die Augen auf, schloss das Fenster der Toilette und ging an die Arbeit zurück.
Der Mann saß allein an dem Zweiertisch, der bei den meisten anderen Gästen unbeliebt war, weil er im hinteren Teil des Restaurants neben der Treppe zu den Toiletten stand. Er hatte sich den Tisch selbst ausgesucht und genoss es offensichtlich, unbemerkt essen zu können. Der Mann war umdie Fünfzig und unrasiert, seine zurückgegelten Haare waren weiß, er trug Jeans, Converse-Turnschuhe und ein schwarzes T-Shirt ohne Aufschrift oder Logo.
Als Ayfer einen Tisch in seiner Nähe abräumte – die sechs Bustouristen aus Österreich hatten zehn türkische Lire zwischen den verschmierten Dessertschälchen als Trinkgeld für sie liegengelassen –, hielt er eine leere Flasche Efes-Pilsener in die Höhe und schwenkte sie lächelnd hin und her. Da flackerte das Licht auf der Treppe zu den Toiletten und erlosch. Das vierte Bier, dachte Ayfer, entweder er verträgt die Hitze nicht, oder er hat Sorgen. Sie schaffte es, so dicht hinter einer der älteren Kellnerinnen in die Küche zu wischen, dass sie die Schwingtür nicht zu berühren brauchte. Sie trug die dreckigen Dessertschälchen, Gläser, Tassen und Untertellerchen zur Spüle hinüber; dort wurden sie von dem Mann aus dem Iran in die Spüle geschichtet. Ihr Onkel stand vor dem offenen Sicherungskasten. Er trug schwarz-weiß gewürfelte Kochhosen und ein ärmelloses Unterhemd voller Flecken.
»So«, rief er, »schon fließt er wieder, unser Freund, der Strom!«
Ayfer hatte rasch gelernt, sich in der Küche von ihm fernzuhalten, egal, ob er in Feierlaune war oder die Köche beschimpfte, weil er nicht mit ihnen zufrieden war.
»Österreicher«, rief er, »Nazis wie die almanci, die Deutschländer!«
Ayfer verschwand aus der Küche, bevor sie seine Aufmerksamkeit erregte, und bestellte bei Yeter an der Restauranttheke das Efes für den weißhaarigen Gast. Ihre Tante sah erschöpft aus und traurig, Ayfer spürte Mitleid aufblitzen, das sie aber nicht zulassen wollte. Du hilfst mir nicht, obwohl dues könntest, du hast allen Grund, traurig zu sein. Der Onkel sagte Dinge, die eigentlich nicht zu verzeihen waren. Dass ihre Tante das zuließ, war genauso schlimm.
Sie trat an den Tisch des Mannes mit den Converse-Turnschuhen, nahm sein Glas und schenkte das Bier ein. Er hob den Kopf und sagte etwas zu ihr, ohne sie anzusehen. Sein Englisch klang komisch, als nehme er die Sprache nicht ganz ernst und spiele nur damit wie ein Junge mit Bauklötzen. In der Schule war Englisch ihr Lieblingsfach gewesen, und wenn sie den Mann richtig verstand, hatte er sie gefragt, ob sie schon lange hier arbeite. Sie schüttelte den Kopf und stellte das volle Glas auf den Tisch; die kalte leere Flasche behielt sie in der Hand. Der Mann lächelte und trank die Hälfte des Bieres in einem Zug aus.
»Nicht lange, nein«, sagte Ayfer, »wieso?«
Französisch hatte sie nie gern geredet, Englisch dagegen schien ihrem Mund zu entsprechen, es gefiel ihr, die Wörter zu artikulieren und erstaunt zu hören, wie abgeklärt und großstädtisch sie klangen, wie aus dem Mund einer anderen, die weit gereist war und die Welt gesehen hatte.
»Weil du nicht hierher gehörst«, sagte der Mann ernst.
Sieht man mir also an, dass ich hier fremd bin, dachte sie, dass meine Gedanken an einem anderen Ort sind? Ich werde nie hier ankommen, weil ich es gar nicht will.
»Ayfer!«
Die Stimme ihrer Tante klang wie ein Instrument, das nicht gestimmt war; Ayfer wusste genau, welches Gesicht ihre Tante schnitt, wenn sie so nach ihr rief. Verbittert, böse. Das Gesicht einer alten verhärmten Frau. Ihre Lippen, die sanft zitterten, wenn ihr etwas gut gefiel, waren dann nichts als einStrich, eine Narbe. Ich möchte meine Tante schlagen, dachte Ayfer, mitten ins Gesicht schlagen, drei, vier Mal, wortlos und ohne Mitleid, gnadenlos, sie hätte es verdient.
»Ayfer!«
Der Mann blickte Ayfer an, und sie drückte für einen Augenblick die Augen zu, als gebe sie ihm damit ein Zeichen, dann drehte sie sich um und ging an der Tante vorbei in die Küche.
7
Am Mittagstisch verhielt sich Roberta noch ruhiger als sonst; sie wollte keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen und stellte sich vor, unsichtbar zu sein. Dabei wurde sie sowieso nicht
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