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Wald aus Glas: Roman (German Edition)

Wald aus Glas: Roman (German Edition)

Titel: Wald aus Glas: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hansjörg Schertenleib
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Die Angst wird auch morgen da sein, also geh, geh endlich!

6
    Die Scheiben zum Hinterhof waren beschlagen, alle Feuerstellen der vier Gasherde in Betrieb. Kondenswasser perlte von den Wänden und den Aluminiumhauben der Dampfabzüge; die Köche mussten immer wieder von den Herden zurücktreten, um eiskaltes Mineralwasser zu trinken und sich den Schweiß aus den Augen zu wischen. Eben war der zweite Reisebus vorgefahren, und Ayfers Onkel warf vor Aufregung die Hände in die Luft: Die Yoghurtsuppe war versalzen und musste verdünnt werden, auch die zweite Vorspeise, sigara böregi, Blätterteigrollen, passte ihm nicht. Ayfer liebte das Fauchen der blauen Flammenkränze, das Aufzischen des Öls, das Klappern der Töpfe, das rasende Klopfen der scharfen Messerchen, mit denen die Köche auf Holzbrettchen Gurken oder Paprikas schnitten. Weder die Hektik in der Küche noch die lauten Stimmen und Zoten der Köche machten ihr Angst. Sie war lieber in der Küche als im Restaurant des Hotels, in dem sie sich benehmen musste, als sei sie zwanzig Jahre älter. Aber ihr Onkel hatte ihr am ersten Tag klargemacht, dass sie es sich aus dem Kopf schlagen könne, von ihm zur Köchin ausgebildet zu werden. »In meinem Hotel hat eine Frau nichts am Herd verloren!«
    Ayfer stand mit den anderen Kellnerinnen an der Aluminiumtheke, auf der sie die angerichteten Teller in Empfang nahmen, und wartete auf die erste Vorspeise, gefüllte Paprikaschoten, Dolma, mit der ihr Onkel zufrieden war, taub für seine nörgelnde Stimme, blind für seinen Blick.
    Ich bin nichts, dachte sie, also kann ich alles sein.
    Ich bin niemand, also kann ich jede sein.
    Sie stieß das Fensterchen auf, das über der Toilette in die Wand eingelassen war, und hielt das Gesicht mit geschlossenen Augen in die Sonne. Der Hauptgang war an allen Tischen abgetragen, mehrere Gäste hatten bereits bezahlt und waren gegangen; bis die Nachspeise für die Pauschaltouristen, die mit Bussen hergekarrt worden waren, serviert werden musste, blieben Ayfer ein paar Minuten.
    Sie brauchte diese kurzen Momente während der Arbeit, in denen sie allein war, weil ihr alles zu viel wurde und weil sie sich an Davors Gesicht erinnern wollte, erinnern musste. Sie schlang die Arme um den Körper und neigte den Kopf zur Schulter, als helfe ihr das, sein Gesicht vor sich zu sehen. Sie wusste nicht mehr genau, wie er aussah. Wie er roch, daran konnte sie sich genau erinnern, auch seine Stimme hatte sie im Ohr. Etwas drängte sie, seine Stimme nachzuahmen und seinen Namen so auszusprechen wie er ihren. Ay-fer! Ay-fer! Als bestehe er aus zwei Namen, die er nur mit ganz wenig Atem und heiserer Stimme aussprechen konnte, als fürchte er sich vor ihr. Da-vor! Da-vor! Was hatte sie eigentlich gemacht, bevor sie ihn kennengelernt hatte? Vor ein paar Tagen war sie mitten in der Nacht aus dem Schlaf geschreckt, ohne zu wissen, wo sie sich befand, schweißgebadet wegen der unsinnigen Vermutung, sie habe seinen Namen vergessen. Wie heißt er bloß? Sie war ans Fenster getreten, hatte in den Hinterhof hinuntergeblickt und seinen Namen wiederholt, bis sie das Gefühl bekam, er sei ein Teil von ihr. Er war einen Kopf größer als sie, beide hatten sie schwarze Haare, rabenschwarz, wie er sagte, und sie hatte das Wort, das ihr gefiel, gleich wiederholt: rabenschwarz! Er rasierte sich jeden Tag, obwohl es gar nicht nötig gewesenwäre, zumindest nicht jeden Tag, wie er ihr bei ihrem zweiten Treffen gestand. Wenn sie sich trafen, sah sie ihn, bevor er sie sah, immer. Meist hatte er dann eine Zigarette im Mund, nicht, weil er gerne rauchte, wie sie vermutete, sondern weil er sich gefiel, die Zigarette im Mundwinkel auf und nieder wippen zu lassen und im Rauch zu zwinkern, der ihm in die Augen stieg. Wenn er sie endlich bemerkte, nahm er die Zigarette jedes Mal schnell aus dem Mund, ließ sie fallen und zertrat die Glut, als habe sie ihn bei etwas ertappt, das sie störte. Dabei gefiel er ihr mit einer Kippe im Mundwinkel; es gefiel ihr auch, dass er »Largo« rauchte, eine Marke, die sonst keiner kannte und die ihm ein Onkel in Kroatien besorgte. Das Schweigen, das sich plötzlich zwischen ihnen ausbreiten konnte und sich wie ein Schatten über sie legte, machte ihr immer noch Angst.
    Der Staub auf der Landstraße hinter dem Hotel riecht wie früher der Herbst im Haus meiner Großeltern, schoss ihr durch den Kopf. Seit sie in der Türkei war, fielen ihr Dinge auf, für die sie bis jetzt blind gewesen war. Ich bin

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