Wald aus Glas: Roman (German Edition)
Schulklasse, die genau in dem Moment aus dem Wald getreten war, in dem sie die Plastikhaut des Zeltes und die Stangen aus der Verpackung geschüttelt hatte. Wenn sie nicht beobachtet worden wäre, hätte sie ihren Rekord von sechs Minuten wahrscheinlich gebrochen; aber die Kinder und der Lehrer, der es nicht lassenkonnte, ihr Ratschläge zuzurufen, hatten sie abgelenkt. Zwei Mal hatte sie das Zelt sogar nachts aufgebaut, schließlich musste sie davon ausgehen, es jeweils erst nach Einbruch der Dunkelheit aufstellen zu können, sobald sie unterwegs waren. Mittlerweile kannte sie jedes Teil, wusste, wozu es gebraucht wurde, und beherrschte die nötigen Handgriffe blindlings.
Bevor sie anfing, das Zelt im Schutz der Felsen aufzustellen, öffnete sie eine Dose Hundefutter, leerte die Fleischbrocken in einen Teller und stellte ihn auf die Wiese. Prinz blieb sitzen und sah sie mit schräg gelegtem Kopf an; sein Schwanz klopfte unruhig aufs Gras.
»Friss«, sagte sie leise und schnürte den Zeltsack auf.
Prinz machte sich nicht gierig über sein Futter her, er fraß langsam, fast bedächtig. Sie hatte das Zelt beinahe fertig aufgebaut, bevor ihr Hund den Teller sauber geleckt hatte; die letzte Schnur war gespannt, und sie schlug eben den letzten Hering in den Boden, als Prinz sich neben sie setzte. Sie blies die Campingmatte auf, schob sie in den Innenraum und legte ihren Schlafsack und Prinz’ Decke darauf. Sie strich ein Zündholz an, damit es für einen Moment hell wurde; der Geruch nach Phospor erinnerte sie an ihren früheren Mann, der nach dem Mittagessen eine Pfeife geraucht hatte. Der Geruch des Tabaks hatte ihr nichts bedeutet, aber den scharfen Duft nach Phospor, der ihr in die Nase stieg, hatte sie geliebt. Sie kroch ächzend ins Zelt, kämpfte sich aus den Trekking-Boots und streifte die Socken ab. Ihre Füße waren rot und geschwollen, aber nicht wund. Blasen hatte sie keine. Sie setzte sich auf und zog den Rucksack ins Zelt. Prinz sah sie an, die Ohren gespitzt, und beobachtete, ohne sich von der Stelle zu rühren, wie sie eine Gaskartusche in die Laterneschraubte und sie anmachte. Das leise Fauchen der Lampe ängstigte ihn, er jaulte auf und schüttelte den Kopf.
»Rein mit dir, los!«
Der Hund zögerte, aber Roberta holte ihn nicht herein, sie wartete, bis er sich von allein durch den Eingang wagte. Prinz sah sich unsicher um, schnupperte am Zeltboden und an den Wänden, die sich im Wind bewegten. Schließlich legte er sich auf seine Decke, gähnte und fing an, sich die Vorderpfoten zu lecken. Sie war erschöpft, aber gleichzeitig fühlte sie sich leicht und auf seltsame Weise anwesend und lebendig, als summe ihre Haut, ihr Blut. Sie holte die Packung mit den Kürbiskernen, die Lesebrille und das Buch aus der Seitentasche des Rucksacks, das sie aus der Bibliothek mitgenommen hatte. Dann zog sie den Reißverschluss des Zeltes zu, warf sich eine Handvoll der Kerne in den Mund und schlug »Frost« auf.
Nach wenigen Sätzen wusste sie, sie würde das Buch nur in kurzen Abschnitten lesen können, in homöopathischen Dosen, Satz um Satz, sonst verschloss sich ihr die Geschichte. Aber vielleicht ging es ja genau darum. Vielleicht sollte sie sich auf die Suche nach Wörtern machen und diese Wörter auflisten. Sie klaubte den Bleistift aus dem Seitenfach des Rucksacks und entfaltete die Liste, die in dem Roman gelegen hatte.
Kopfgewicht
Hohlweg
Totgeburt
Landstreicher
Floß
Hundekadaver
Armenhausküche
Sie las den ersten Tag der Geschichte, etwas mehr als eine Seite, für die sie fast eine halbe Stunde brauchte, den schlafenden Hund neben sich. Sie hatte zwei Wörter gefunden, die sie der Liste hinzufügen wollte, und schrieb sie darunter.
Emailkübel
Unerforschliches
Wie ungelenk ihre Schrift unter den anderen Wörtern aussah; ihre Buchstaben standen für sich, als wollten sie nicht ineinanderfließen, während die Buchstaben der anderen Schrift wirkten, als reichten sie sich die Hand, um ein Wort zu bilden, eines, das sich nicht einfach auseinandertrennen ließ, Buchstaben, die zusammenhielten, für einander eintraten. Ihre Buchstaben dagegen sahen aus, als hätten sie nichts miteinander zu tun. Roberta legte Buch und Lesebrille beiseite und machte die Gaslaterne aus.
2
Ayfer lag wie in einem Sarg und war doch am Leben. Die Augen zugedrückt, krümmte sie sich mit geballten Fäusten hinter einer Stütze des Gepäckfaches zusammen, um den Schlägen der Koffer zu entgehen, die bei jeder Bodenwelle
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