Wald aus Glas: Roman (German Edition)
Rosenschere in der Hand. Vor der Doppelgarage eines Hauses stand ein Anhänger mit Motorboot, hinter einem Fenster des Hauses bewegte sich die Gardine, und Roberta bemerkte einen Mann, der ihnen ebenfalls nachsah. Einen Augenblick lang stellte sie sich vor, die Meldung, eine alte Frau werde vermisst, sei bereits in den Zeitungen erschienen, natürlich mit Foto, doch sie wusste, dass das nicht möglich war, noch nicht. Heute schien ihr der Rucksack viel schwerer, außerdem tat ihr das rechte Knie weh. Erst ignorierte sie das Bedürfnis, im Restaurant, an dem sie vorbeigingen, einen Kaffee zu trinken, aber dann blieb sie doch stehen und drehte um. Auf eine halbe Stunde kam es nicht an, und sie wollte nachprüfen, ob die Vermisstenanzeige wirklich noch nicht erschienen war. Der Wind trieb eine Plastiktüte über den leeren Parkplatz vor dem Eingang, die Pflanztröge, die die Tür flankierten, waren leer.
Am Stammtisch saßen zwei Männer in ihrem Alter, sie hoben die Köpfe und nickten, als sie eintraten. Abgesehen von den Männern und der Serviertochter, die am Tresen in einer Illustrierten blätterte, war die Gaststube leer. Einer der Männer trug ein Übergewand, der andere hatte einen Schnurrbart, der ihm wie ein Kreidestrich über der Lippe stand. Roberta lehnte den Rucksack an die Wand und setzte sich an den Tisch direkt beim Eingang. Prinz drängte sich ungestüm unter die Eckbank, weshalb einer der Stühle, die er dabeiverschob, fast umgefallen wäre. Sie konnte ihn im letzten Augenblick an der Lehne festhalten.
»Das war knapp«, sagte die Serviertochter und trat an ihren Tisch.
Sie schüttelte ihre rechte Hand, als habe sie sich eben die Fingernägel lackiert und wolle sie so trocknen. Roberta nickte und bestellte einen Milchkaffee, dann ging sie zum Zeitungsständer hinüber, um die Tageszeitungen zu holen, die dort aushingen.
»Träumst du noch?«, fragte der Mann im Überkleid.
Das Erstaunen über die Frage, die nicht an einen Stammtisch gehörte, stand im Blick des Mannes mit Schnurrbart.
»Wieder, Werni, wieder. Und du?«
»Damit hab ich auch aufgehört. Ist gesünder. Und du, Silvia?«
Die Serviertochter – sie schraubte den Kolben in die Kaffeemaschine und schaltete sie ein – lachte.
»Träumen? Jede Nacht«, sagte sie, »aber jede. Manchmal sogar am Tag.«
»Das sind die schönsten Träume«, sagte der Mann im Überkleid.
»Weltreise?«, fragte der mit Schnurrbart spöttisch und deutete mit dem Kinn auf den Rucksack.
»Nicht ganz«, antwortete Roberta, setzte sich auf ihren Stuhl und schlug eine Zeitung auf, »ich bin auf der Flucht.«
Die Wahrheit, das wusste sie, wurde oft genug als Scherz verstanden, als Witz. Oder als blanke Lüge.
»Sind wir das nicht alle?«, fragte der Mann mit Schnurrbart und nahm einen tiefen Schluck Bier.
»Ich geh gar nirgends mehr hin«, sagte der andere.
»Außer hierher, Werni.«
»Außer hierher. Wo er recht hat, hat er recht. Und vor wem sind Sie auf der Flucht, wenn man fragen darf? Banküberfall?«
Die beiden lachten; die Serviertochter stellte den Milchkaffee vor Roberta auf den Tisch, verzog keine Miene und verschwand durch eine Schwingtür in die Küche.
»Erraten«, sagte Roberta.
»Dann ist der Rucksack also voller Geld?«
Der mit dem Schnurrbart sah sie grinsend an, das Bierglas in der Hand, der andere stieß leise auf.
»Goldbarren«, sagte sie.
»Ganz schön schwer.«
»Und ganz schön viel wert.«
In diesem Moment trat die Serviertochter durch die Schwingtür, gefolgt von einem Mann, der einen Bestellblock in der Hand hielt. Die beiden Stammgäste senkten beschämt die Köpfe, als seien sie bei etwas Unanständigem ertappt worden.
»Aber einen Espresso nimmst du, Bruno«, sagte die Serviertochter und machte sich an der Kaffeemaschine zu schaffen.
»Einen kleinen, schnellen, Silvia. Ich muss weiter.«
Der Mann blieb am Tresen stehen, faltete den Bestellblock zusammen und steckte ihn in die Brusttasche seines grünen Arbeitskittels. Er trug Jeans, Cowboystiefel mit abgeschrägten Absätzen und hatte sich die schwarzgefärbten Haare nach hinten gekämmt.
Roberta fand in keiner Zeitung eine Vermisstenmeldung. Sie trank den Kaffee aus, blieb aber sitzen. In der Küche klapperten Töpfe, es roch nach angebratenen Zwiebeln. Prinz kam unter dem Tisch vor, setzte sich dicht neben sie und lehnte sich an sie.
»Wissen Sie, wann der nächste Bus fährt?«, rief sie.
»Wohin denn?«, gab der mit Schnurrbart zurück.
»Nach
Weitere Kostenlose Bücher