Wald aus Glas: Roman (German Edition)
verrutschten. Es stank nach Benzin, darum atmete sie durch den Mund, in ihren Ohren summte es, so laut war der Motor. Sie waren seit einer halben Stunde unterwegs, und da sie nicht wusste, wohin die Reisegruppe fuhr, hatte sie keineAhnung, wie lange sie noch in ihrem Gefängnis ausharren musste. Der Bus – das hatte sie gesehen, bevor sie ins Gepäckfach geklettert war – hatte keine Toilette. Die Reisegruppe bestand aus Senioren, also gab es bald einen Pinkelhalt. Die Lichtstreifen, die in ihren Blechsarg fielen, halfen ihr nicht, die Situation besser auszuhalten, sie bewiesen ihr nur, dass es eine Welt außerhalb ihres Versteckes gab, eine Welt voller Sonnenlicht, eine Welt, in der ein kühles Windchen die Hitze erträglich machte, eine Welt, in der es nach Meer duftete und nach Pistazieneis, das in einem Schälchen auf dem Blechtisch schmolz, an dem man im Schatten saß und durch ein offenes Fenster einen Song von Sezen Aksu hörte, leise und wie aus einem früheren Leben in die Wirklichkeit hinübergeweht.
Ayfer konzentrierte sich darauf, ruhig und regelmäßig zu atmen, nicht in Panik zu geraten und sich an etwas Schönes zu erinnern. Es half nicht, an Davor zu denken, im Gegenteil. Die Erinnerung an ihn machte sie weinerlich, ohne dass sie begriff, weshalb. Sie drehte sich auf den Rücken, legte die geballten Fäuste auf die Brust, als schütze sie das. Sie fühlte sich unwohl in geschlossenen Räumen, im Kino saß sie immer am Rand, sie brauchte die Möglichkeit zur Flucht. Aber du bist auf der Flucht! Du liegst hier in diesem Blechsarg, weil du es nicht ausgehalten hast im Land deiner Eltern, in dem sie selbst auch nicht mehr leben möchten. Wann hatte sie das letzte Mal zu Allah gebetet, weil es ihr ein Bedürfnis war, und nicht, weil ihr Vater, ihr Bruder oder ihr Onkel es von ihr verlangten? Sie betete jeden Tag, weil sie jeden Tag beten musste. Freiwillig hatte sie den Gott, an den ihre Familie glaubte, immer nur angerufen, wenn sie sich fürchtete oder wenn sie nicht mehr weiter wusste. Ich fürchte michzu Tode, aber ich werde weder zu Allah beten, noch werde ich ihn um Hilfe anflehen! Mit sechs Jahren hatte sie ihren Vater gefragt, warum Muslime eigentlich Richtung Osten beten. »Wir wenden uns nach Mekka, nicht nach Osten«, hatte er geantwortet. Ihre Frage »Warum tun das die Christen nicht?« hatte ihm die Sprache verschlagen, schließlich hatte er gesagt: »Weil ihnen schon die ganze Welt gehört. Sie können schauen, wohin sie wollen. Es gehört ihnen bereits alles. Sie müssen sich nicht für eine Richtung entscheiden.«
Ayfer hatte den alten Frauen und Männern zugehört, als sie in den Bus gestiegen waren, während sie sich in eine Nische des Gepäckfaches gedrückt hatte, um nicht doch noch vom Fahrer entdeckt zu werden. Die Reisegruppe war aus Köln, der Klang der deutschen Sprache hatte Ayfer traurig gestimmt, als würde sie durch sie an etwas erinnert, das für sie unwiderruflich verloren war. Sie legte ihre Hände flach auf den Boden des Busses, aber so waren die Erschütterungen nur noch stärker zu spüren, und sie legte sich auf die Seite und zog die Beine an die Brust. So hast du dich schon als Kind hingelegt, wenn du Angst hattest und an einem anderen Ort sein wolltest. Wenn sie den Atem anhielt, konnte sie die Stimmen der Alten hören, eine Frau lachte besonders laut und schrill, Ayfer versuchte sich vorzustellen, welche es sein könnte. Gedanken daran, wie ihre Reise weitergehen sollte, verdrängte sie. Sie hatte das Handy noch nicht wieder eingeschaltet, vielleicht würde Davor versuchen, sie dazu zu überreden, ihre Flucht abzubrechen und zu ihrer Tante und zu ihrem Onkel zurückzukehren. Sie sah ihren Vater und ihren Bruder vor sich, beide kochten vor Wut und schrien sich Vorwürfe ins Gesicht, während sich ihre Mutter weinendim Schlafzimmer verkroch, weil sie sich vor der Verwandtschaft des Vaters schämte und weil sie sich schuldig fühlte. Aber ihre Eltern wussten bestimmt noch nichts von ihrem Verschwinden, weil sich ihr Onkel nicht eingestehen konnte, dass sie ihm entkommen war. Er musste alles daran setzen, Ayfer zu finden, ohne dass ihre Eltern erfuhren, dass sie abgehauen war.
Das Gepäck der alten Menschen roch muffig und abgestanden, das war ihr aufgefallen, als der Fahrer die Koffer und Taschen in das Gepäckfach gestapelt hatte, in dem sie sich so klein wie möglich machte. Die Koffer und Taschen rochen alt, so, als seien sie schon sehr lange auf dieser Welt
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