Wald aus Glas: Roman (German Edition)
unterwegs und darum zu müde, um sich noch richtig zu pflegen. Meine Tasche, das wusste Ayfer mit absoluter Gewissheit, riecht, wie ich selbst rieche: frisch und jung, voller Tatendrang, unverbraucht.
Sie waren jetzt auf einer Autobahn unterwegs, vermutete Ayfer, die Reifen sirrten heller, auch waren die Erschütterungen weniger stark. Dafür vibrierten jetzt der Blechboden, auf dem sie lag, und auch die Stütze. Wir fliegen, ich liege im Frachtraum eines Flugzeuges, weit draußen über dem Atlantik, dachte sie, mitten in der Nacht, über mir schlafen die Fluggäste in ihren Sitzen, und keiner weiß von mir; ich reise mit ihnen, heimlich, unsichtbar, zusammen mit den Hunden und den Katzen in ihren Käfigen.
Der Fahrer schaltete den Motor in rascher Folge runter, sie fuhren durch eine langgezogene Kurve, deutlich langsamer als zuvor, trotzdem musste Ayfer sich mit den Schultern gegen verrutschende Koffer stemmen. Gleich darauf hielt der Bus an, und der Motor wurde ausgeschaltet. Ayfer schob dieGepäcksstücke, die sie bei der Abfahrt vor den Blicken des Fahrers und der Alten geschützt hatten, zur Seite. Sie musste so schnell wie möglich ins Freie kommen, sobald die Tür des Gepäckfaches aufschwang, und weglaufen, bevor sie jemand packen konnte. Sie ging davon aus, dass sie auf dem Parkplatz einer Raststätte standen; sie würde über den Zaun klettern und in einem Feld oder Wald untertauchen. Erst als die Türen des Busses zischend entriegelt wurden und sie die Schritte der Alten auf der Treppe beim Ausstieg hörte, fing sie an, mit den Fäusten gegen die Wand des Gepäckfaches zu hämmern. Sie durfte sich nicht darauf verlassen, dass das Fach geöffnet wurde; vielleicht setzte sich die Gruppe mit dem Fahrer ins Restaurant der Raststätte und das Fach blieb geschlossen, und sie war gezwungen, weiter mit ihnen zu fahren, ohne zu wissen, wohin.
Die Alten schnatterten durcheinander, aufgedreht und quengelig, aber sie waren auf Ayfers Klopfen aufmerksam geworden. Ein Mann rief aufgeregt nach dem Fahrer, sie hörte ein Feuerzeug klicken und eine Frau husten, dann wurde der Schlüssel ins Schloss des Gepäckfaches geschoben und umgedreht. Das Licht war schneidend hell, die Luft warm und schwer und dennoch wohltuend frisch, als werde sie mit kaltem Wasser übergossen. Ayfer rollte sich seitwärts aus dem Bus, drängte den Fahrer zur Seite, der sie erstaunt ansah, und fiel auf den Asphalt, der heiß war wie der Sand am Strand von Sile. Sie schaffte es, auf die Beine zu gelangen, bevor ihr einer der glotzenden Alten zu nahe kam. Sie befanden sich tatsächlich auf einer Autobahnraststätte.
Ayfer drückte ihre Tasche gegen die Brust und lief los.
3
War es der Regen, der sie weckte, das leise Getrommel auf den Zeltwänden, oder war es Prinz, der ihr die feuchte Schnauze ins Gesicht stieß, bis sie die Augen aufschlug? Ihr Hund saß dicht neben ihr und sah sie an, die Ohren angelegt, ein Winseln tief in der Kehle.
Roberta setzte sich auf und zog den Reißverschluss des Zeltes nach oben, um Prinz ins Freie zu lassen. Er sprang mit einem Satz auf die Wiese hinaus und verschwand. Der zementgraue Himmel hing tief. Es wurde schon hell, war aber noch früh, wie sie auf ihrer Armbanduhr sah: kurz nach sieben. Sie spürte, wie kalt es über Nacht geworden war. Schultern und Nacken waren verspannt, die Knie taten ihr weh, doch sie hatte tief geschlafen und war hungrig. Die Wolken, die über die Hügel zogen, waren zu Säulen zusammengeballt, die sich langsam drehten und in sich zusammenfielen.
Roberta kroch aus dem Schlafsack und nahm eine Dose Hundefutter, Brot und Käse aus dem Rucksack. Die Zeit, ein Feuer zu machen und Kaffee zu kochen, nahm sie sich nicht. Sie wollte so schnell wie möglich weiter, weg von Hausmanns Lieferwagen, vom Altenheim. Prinz’ Schatten wischte über die Zeltwand, schon hockte ihr Hund vor dem Eingang.
»Gleich«, sagte sie und kroch aus dem Zelt, »du hast dein Geschäft erledigt. Jetzt bin ich an der Reihe. Danach gibt’s Futter.«
Bevor sie die ersten Häuser erreichten, nahm sie Prinz an die Leine; sie wollte nicht riskieren aufzufallen, weil sie ihren Hund frei laufen ließ. Es hatte aufgehört zu regnen, dafürging ein kühler Wind. Die blasse Sonne, die im Osten am Himmel stand, hatte keine Kraft und sorgte für graues Licht. In einem Vorgarten beugte sich eine Frau über einen Rosenbusch und sah ihnen misstrauisch nach. Sie trug Gummistiefel und Gartenhandschuhe und hielt eine
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