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Wald aus Glas: Roman (German Edition)

Wald aus Glas: Roman (German Edition)

Titel: Wald aus Glas: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hansjörg Schertenleib
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die in der Ferne zu sehen waren, Straßenbeleuchtung, Lampen unter Stalldächern und vor Garageneinfahrten, schienen die Dunkelheit nur zu verstärken. Äste knarrten. Auf der Passstraße war der Motor eines Autos zu hören, dann war es still.
    »Jetzt geht es zu Fuß weiter«, sagte sie, griff Prinz zärtlich ins Fell und tätschelte ihm den Kopf.
    Ihre Stimme klang fremd in dem finsteren Wald, und sie nahm sich vor, nicht mehr zu reden. Das Licht des Mondes bezog Äste von Laubbäumen und Tannen mit perlmuttfarbenem Schimmer, der aussah, als lasse er sich wie die Haut einer Zwiebel abziehen. Sie hob den Rucksack aus dem Wagen, warf die Tür zu, schwang sich den Rucksack aufseufzend auf den Rücken, schloss den Reißverschluss der Gore-Tex-Jacke, richtete die Tragegurte, zog die Riemen fest und hielt für einen Augenblick den Atem an. Prinz sah sie an, den Kopf schräg gelegt, und bellte einmal.
    »Auf geht’s«, sagte sie und ging los.
    Prinz zögerte für einen Herzschlag, dann folgte er ihr. Der Waldboden, weich, nachgiebig, bedeckt von Tannennadeln, verströmte einen starken Geruch, wie ein Komposthaufen. Der Rucksack war schwer, aber er schmiegte sich an ihren Rücken, als sei er Teil ihres Körpers, wie der Verkäufer versprochen hatte. Sie stiegen langsam durch dicht stehende Bäumeeinen Hang hinauf. Eine gefällte Tanne, geschält und von Ästen befreit, leuchtete im Mondlicht, das stark genug war, damit sie Ästen und zurückschnappenden Zweigen ausweichen konnten und nicht in Unterholz oder Dornengestrüpp gerieten. Ihr Hund hechelte, Roberta keuchte. Der Hang war nicht sonderlich steil, aber sie war zweiundsiebzig Jahre alt; sie musste immer wieder stehenbleiben und nach Atem ringen, die Hände auf die Knie gestützt, die Augen geschlossen. Aber schließlich erreichten sie den Kamm des Hügels. Ein kühler Wind wehte. Das diffuse blaue Licht verwischte die Konturen der weichen, hintereinander gestaffelten Wiesenbuckel, nahm der Landschaft jede Tiefe. Tagsüber waren die Linien der einzelnen Hügelreihen scharf voneinander abgegrenzt, das wusste Roberta, sie kannte die Gegend von Spaziergängen mit Karl Hausmann. Zu Beginn ihrer Affäre im Frühling vor zwanzig Jahren waren sie gelegentlich für ein paar gestohlene Nachmittagsstunden in einem Hotel auf dem Hirzel abgestiegen. Karl hatte es gefallen, sie stehend von hinten am Fenster zu nehmen, die Hände auf ihren Schultern, als brauche sie Trost oder Besänftigung. Damals hatte sie sich, während sie seine Stöße empfing, die Hügel eingeprägt, Reihe um Reihe, bis zum Horizont, Hügel nach Hügel, und oft genug mit der Enttäuschung gekämpft, noch während Karl sie liebte. Ich habe meine Träume dem Leben angepasst, das ich führe, ging ihr durch den Kopf und griff ihrem Hund ins Fell, wie fast alle. Das hat nicht nur mein Leben und meine Träume kleiner gemacht, sondern auch mich, kleiner und ängstlicher, als ich hätte sein können. Ich bin ein Angsthase, dachte sie und lachte auf, oder nein, ich war ein Angsthase. Nun versuche ich es einmal damit, Mut zu beweisen.
    Prinz wurde ungeduldig. Er zog sie auf den Wanderweg, der dem Grat des Hügels entlanglief, breit genug, dass sie nebeneinander gehen konnten. Nach ein paar Minuten kamen sie an einer Tränke vorbei, einer ausrangierten Badewanne voller Beulen. Roberta tauchte die rechte Hand ins kalte Wasser, das sich im Wind kräuselte, und nickte Prinz aufmunternd zu. Aber er ging an der Tränke vorbei, ohne sich um das Wasser zu kümmern.
    Nach einer Stunde verließen sie den Weg, stiegen vorsichtig einen Abhang hinunter, überquerten einen Bach, gingen durch Farn, der sich raschelnd hinter ihnen schloss, und kamen auf eine Wiese, die auf drei Seiten von Bäumen begrenzt wurde. Ihre Finger rochen nach dem Farn, den sie berührt hatten. Felsblöcke und Steine lagen weit versprengt auf der Bergwiese, doch zwischen den Felsen war das Gras weich; gepolstert von Moos, federte es unter den Schuhen nach. Die Sohlen ihrer neuen Bergstiefel machten ein sirrendes Geräusch auf den feuchten Halmen, als gleite sie über Eis.
    Roberta zog den Rucksack aus, lehnte ihn gegen einen Fels und nahm das Biwakzelt heraus. Ihr Rücken hatte dem Rucksack eine Vertiefung aufgedrückt, jetzt spürte sie auch die Nackenschmerzen, die langsam über ihren Hinterkopf krochen. Um zu üben, hatte sie das Zelt fünf Mal aufgebaut, zuletzt auf einer Lichtung, eine Stunde Fußweg vom Altenheim entfernt, beobachtet von einer

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