Wald aus Glas: Roman (German Edition)
die Regale und legte drei Dosen Cola Light, einen Schokoriegel, zwei Tüten Chips, eine Packung Pistazien und ein Kistchen Datteln hinein. Dann stellte sie sich an den Tresen, an dem Früchte und warmes Essen verkauft wurden. Die Gerüche, die ihr in die Nase stiegen, machten sie traurig; sie hatte die Türkei geliebt, war das jetzt nicht mehr möglich? Würde sie je wieder hierher zurückkehren? Die Frau am Tresen sah den Männern, die sie bediente, nicht in die Augen, ihr Gesicht war bleich, ihr Kopftuch schwarz. Ayfer bestellte gefüllte Weinblätter, eine Wassermelone, ein ekmek, Weißbrot, und eine kleine Dose pathcan salatasi, Püree aus geräucherten Auberginen, als Aufstrich. In einem Leuchtkasten lagen geschnittene Tomaten neben Auberginen und Paprika, die glänzten, als seien sie aus Plastik. An der Kühlschranktür hing ein Poster des türkischen Schauspielers Kivanc Tatlitug, von dem Ayfer auch ein Bild an der Tür ihres Schrankes aufgehängt hatte. Die Bewegungen der Frau waren exakt abgemessen, sie tat keinen Handgriff zuviel. Wenn sich die Glastür öffnete, wehte Zugluft den Duft des gegrillten Fleisches und Gemüses durch den Shop. Davor hatte ihr erzählt, er könne besonders gut einschlafen, wenn es regne, weil ihn das an die Ferien bei seiner Lieblingstante in Kroatien erinnere. »Ich glaub, dort regnet es immer, was überhaupt nicht stimmt.« Trotzdem schlief Davorbesser ein, wenn es regnete. Er hatte sich eine CD mit Regengeräusch gekauft, die er sogar abspielte, wenn es wirklich regnete. »Der richtige Regen klingt einfach weniger echt als der von der CD«, hatte er zu ihr gesagt und sie rasch an sich gedrückt, damit sie sein Gesicht nicht sehen konnte. Was würde ich dafür geben, dachte Ayfer, wenn ich die Gerüche der Türkei mit in die Schweiz nehmen könnte! Was fehlt mir eigentlich aus der Schweiz? überlegte sie, während sie zur Kasse hinüberging. Mein Leben fehlt mir, die Möglichkeit, die Frau zu werden, die ich sein will.
Sie verließ den Shop, trat aus dem Licht der Tankstelle und ging über den Parkplatz; sie wollte sich am Rand der Raststätte an den Maschenzaun setzen, um in aller Ruhe zu essen. Danach würde sie eine Mitfahrgelegenheit suchen. Sie hatte die Dämmerung schon als Kind gefürchtet; das Zwielicht, in dem die Welt zu einer grauen Masse ohne Tiefe verschmolz, vertraute Räume schummrig und unberechenbar und alle Geräusche unheimlich wurden, weckte den Wunsch in Ayfer, sich irgendwo zu verkriechen, wo sie in Sicherheit war. Die Sattelschlepper und Lastzüge, die dicht an dicht standen und aus deren Schlafkojen und Kabinen Musik oder Stimmen zu hören waren, erinnerten Ayfer an die Wagenburg in dem Western, den sie sich vor ein paar Tagen mit ihrem Onkel im Fernsehen angeschaut hatte. Früher hatten sie und ihr Bruder den Esstisch im Wohnzimmer mit Wolldecken und Tüchern in ein Geheimlager verwandelt, in dem die Regeln der Erwachsenen nicht galten. Die Erinnerung an ihren Bruder schnürte ihr die Luft ab; sie blieb stehen, stellte die Einkäufe und ihre Tasche auf den Boden und bemühte sich, tief und ruhig zu atmen.
»Are you ok?«
Ayfer drehte sich um, die Arme angewinkelt, die Fäuste vor der Brust, wie Davor es ihr gezeigt hatte. »Wenn dir trotzdem einer blöd kommt, mach ich ihn tot!« Das Mädchen, das sich auf der Toilette die Zähne geputzt hatte, stand vor einem nachtblau lackierten Lastzug, ein Glas in der Hand.
»Yes«, sagte Ayfer und griff nach der Tüte mit den Esswaren.
»What’s your name?«
»Ayfer.«
»Annika. I am from Austria. And you?«
»Austria? Dann können wir ja deutsch reden.«
Das Mädchen lachte und kam auf sie zu. Ayfer warf einen Blick auf das Nummernschild des Lasters. W. Auf der Seitenwand des LK W stand in gelben Buchstaben Steinkogler: Vienna – Turkey.
»Du kommst aus Wien?«
»Und du?«
»Schweiz.«
»Das hör ich selber. Wo aus der Schweiz.«
»Kennst du sowieso nicht. Suhr.«
»Bei Aarau«, sagte das Mädchen, »gibt nur ein Fach, das mir in der Schule getaugt hat. Geografie. Wo sind deine Alten?«
»Nicht hier. Deine?«
Das Mädchen sah sie mit zusammengekniffenen Augen an und deutete mit dem Glas auf den Laster. Auf ihrem Sweatshirt stand facebook sucks.
»Er sitzt da hinten.«
»Er?«
»Erich, mein Vater. Mein Studium fängt erst in zwei Wochenan. Darum begleit ich ihn. Seit der Scheidung ist er total hinüber. Ein Weichei, wie alle Männer. Mit wem bist du unterwegs?«
»Mit mir.«
»Allein?
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