Wald aus Glas: Roman (German Edition)
Wie?«
»Ich bin abgehauen«, sagte Ayfer.
»Hunger?«
Ayfer nickte. Das Mädchen grinste und streckte ihr die Hand entgegen; als Ayfer sie ergreifen wollte, ließ Annika sie fallen.
»Komm«, sagte sie und zog Ayfer lachend an sich.
9
Das rechte Knie tat ihr weh, auch das Gewicht des Rucksacks spürte sie, es zog an ihr, machte sie noch langsamer. Dafür saßen die Trekking-Stiefel perfekt. Humbels Hände sehen aus wie Truthahnfüße! Wann war ihr das aufgefallen? Und warum hatte sie es nicht laut ausgesprochen? »Herr Humbel, Ihr Gerede stört mich, und Ihre Hände sehen aus wie Truthahnfüße!« Vor einigen Tagen hatte sich ein riesiger Krähenschwarm im Wald vor ihrem Zimmer niedergelassen. Sie hatte am offenen Fenster gestanden, da war mit einem Mal lautes Rauschen in der Luft gewesen, und es war mitten am Nachmittag für einen Moment finster geworden. Die Krähen – es mussten Tausende sein – hatten auf einen Schlag die Äste besetzt, als habe jemand das Kommando dazu erteilt,eine flügelschlagende Wolke, die sich plötzlich absenkte und die Wipfel der Bäume verdunkelte, um sich nach wenigen Sekunden genauso plötzlich wieder zu erheben, wieder im Verband, ein Schatten, der aufstieg, fortwährend die Form veränderte und seewärts abzog.
Auf dem Fußgängerstreifen kam Roberta der bedrängende Gedanke, es könne schon wieder zu spät sein. Wofür zu spät? dachte sie und begriff, das Hupen, das nicht aufhörte, galt ihr, nicht dem Verkehr. Sie trat auf den Gehsteig und wandte sich um. Der Mann, der sie auf dem Hirzel mitgenommen hatte, lehnte sich aus dem Fenster seines Lieferwagens.
»Sohn besucht?«
»Er war nicht da«, sagte sie.
»Und jetzt?«
»Jetzt geht die Reise weiter.«
»Ich fahr nach Murg und dann nach Walenstadt.«
»Ich wünsche Ihnen eine gute Fahrt.«
»In Murg hat es einen schönen Zeltplatz.«
»Murg«, sagte sie und zog Prinz dicht an sich heran, »noch nie gehört.«
»Direkt am See.«
»An welchem See?«
»Geografie war wohl nicht Ihre Stärke in der Schule, was?«
»Doch! Aber wir haben andere Gegenden behandelt. An welchem See liegt denn nun Ihr Murg?«
»Am Walensee.«
»Richtung Chur«, sagte sie, »passt.«
»Jetzt steigen Sie schon ein. Oder wissen Sie etwa nicht, wie Sie das Zelt aufstellen sollen?«Abendsonne traf die Frontscheibe und füllte die Fahrerkabine mit safrangelbem Licht, dann fuhren sie in den nächsten Tunnel. In der Betonröhre klang der Motor des Lieferwagens lauter, die Reifen sirrten hell auf dem trockenen Asphalt. Tippte ein Autofahrer vor ihnen auf die Bremse, erschien für einen Moment der Widerschein seiner Bremslichter auf den fleckigen Röhrenwänden. Prinz schlief, den Kopf auf ihre Oberschenkel gebettet.
»Mögen Sie Algen?«
»Algen?«
»Na, das grüne Zeug, das nach Fisch stinkt. Meine Ex behauptet, dass es gut ist für die Moral. Fürs Gemüt.«
»Ich habe noch nie Algen gegessen«, sagte Roberta, »sollte ich?«
»Weil meine Ex sagt, es ist gut fürs Gemüt? Vergessen Sie’s!«
Roberta öffnete und schloss ihre Hände, abwechslungsweise die linke, dann die rechte. Sie taten ihr seit ein paar Monaten weh, wenn sie sie zu lang nicht bewegte; in ihren Fingern summte und kribbelte es, als bewegten sich Hunderte winziger Wespen unter ihrer Haut. Auf den kurzen Autobahnabschnitten zwischen den Tunnels wirkte das Licht heller, als es war. Die Gipfel der Churfirsten am anderen Seeufer waren wolkenverhangen, die Wälder am Fuß der Felswände verfärbt. Fiel Sonnenlicht über die Bäume, standen sie in Flammen. Der Walensee war von unnatürlichem Türkis, wie das Meer.
»Sieht aus wie das Meer«, sagte Roberta.
»Soll der tiefste See der Schweiz sein, hab ich gehört.«
»Es gibt welche, die sehen immer in den Rückspiegel, wenn sie fahren, statt nach vorn. Sind Sie so einer?«
»Bin ich nicht, nein. Ich schau nach vorn. Immer.«
Roberta rutschte auf dem Sitz hin und her, sie hatte Rückenschmerzen und war müde, erschlagen.
»Haben Sie schon mal etwas richtig Schlimmes gemacht?«, fragte sie, ohne den Mann anzusehen.
Er zögerte, fuhr sich mit der Hand durch die Haare und atmete laut aus. Ein Sportwagen schoss an ihnen vorbei.
»Hat das nicht jeder?«, sagte er schließlich.
»Etwas, für das Sie sich so geschämt haben, dass Sie es keinem erzählt haben?«
»Und Sie?«
»Ich hab zuerst gefragt.«
Der Mann lachte und nahm kurz beide Hände vom Lenkrad. Dann klappte er die Sonnenblende auf seiner Seite herunter und
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