Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wald aus Glas: Roman (German Edition)

Wald aus Glas: Roman (German Edition)

Titel: Wald aus Glas: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hansjörg Schertenleib
Vom Netzwerk:
gelautet: »Man sollte nurSachen machen, die Eltern nicht verstehen.« An Davors ersten Satz konnte sie sich komischerweise nicht erinnern. Er war aus ihrem Gedächtnis gelöscht, als sei er nie ausgesprochen worden. Hieß das, dass die Begegnung mit Davor wichtiger war als alle anderen Begegnungen ihres bisherigen Lebens? Oder bedeutete es, dass etwas nicht stimmte zwischen ihnen und dass sie sich tatsächlich von ihm fernhalten sollte, wie es die Eltern verlangten?
    Die junge Frau spuckte noch einmal geräuschvoll aus, dann pfiff sie eine Melodie, als wolle sie sich von Ayfer verabschieden, und die Tür fiel ins Schloss.
    Ayfer nahm das Handy aus ihrer Tasche und schaltete es ein.
    Davor hatte sechs Mal versucht, sie anzurufen.

7
    Warum träumen die meisten Menschen von Dingen, die sie niemals tun würden? dachte Roberta Kienesberger und stieg mit ihrem Hund aus dem Zug. Warum träumt man von Dingen, vor denen man sich, bei Lichte betrachtet, fürchtet? Seit ihrer Scheidung vor über dreißig Jahren war sie nicht mehr in Rapperswil gewesen; sie trat vor den Bahnhof, Prinz an kurzer Leine, und hielt nach einem Fußgängerstreifen Ausschau, der in die Altstadt hinüberführte.
    Der Computer mit Internetanschluss, der in der Bibliothek des Altenheims stand, wurde nur von Humbel regelmäßigbenutzt; Roberta hatte sich verschiedene Routen für ihre Zug- und Busverbindungen und Informationen über Pensionen ausgedruckt, und sie hatte die Adresse des Ladens für Modelleisenbahnen in Rapperswil gefunden, der ihrem Sohn Richard gehörte.
    Sie hatte ihn vor zwölf Jahren das letzte Mal gesehen. Er weigerte sich, sie zu treffen, sie war nicht erwünscht, das hatte sich nicht geändert, darum hatte sie ihren Besuch nicht angekündigt. Sie musste Richard überraschen oder – das traf es wohl eher – überfallen. Vor zwölf Jahren waren sie sich an der Bestattung ihres ehemaligen Ehemannes Herbert begegnet; sie hatte den dicklichen, kahlen Mann im schwarzen Anzug, der ihr am Arm seiner blonden Frau auf dem Kiesweg vor der Abdankungshalle entgegenkam, erst nicht erkannt. Er hat Ballast zugelegt, hatte sie ungerührt gedacht, er ist leider kein attraktiver Mann, mein Sohn. Dass Richard eine Tochter hatte, hatte sie gewusst, aber sie hatte das schlaksige Mädchen mit Zahnspange, das mit unbeteiligtem Gesicht hinter seinen Eltern hertrottete, erst nach einer Schrecksekunde erkannt.
    »Was will denn die hier?« Die Empörung stand Richards Frau gut; sie entzündete das Feuer einer Leidenschaft in ihr, die ihr sonst wohl abging. Richard hatte es Roberta vorgehalten, dass sie gegen seinen ausdrücklichen Wunsch zu der Bestattung gekommen war und wiederholte, dass weder er noch seine Frau oder ihre Tochter Wert auf Kontakt mit ihr legten. »Für uns drei gibt es dich immer noch nicht«, hatte er gesagt, knapp an ihr vorbeigesehen, einen letzten Zug aus der Zigarette genommen und die Kippe achtlos fallen gelassen, ohne sie auszutreten. Roberta hatte sich ausgemalt, wiesie sich bückte, um die Kippe aus dem Kies aufzuklauben und ihrem Sohn in die Hand zu drücken. »Warum hast du dich nie bei mir entschuldigt?« Richards Frage war seiner Tochter peinlich gewesen, aber die Antwort ihrer Großmutter, die sie vielleicht zum vierten Mal in ihrem Leben sah, hatte sie natürlich interessiert, darum war sie mit roten Wangen und weit aufgerissenen Augen näher getreten, schutzlos und neugierig. Roberta hatte damals daran gedacht, sich umzudrehen und einfach wortlos wegzugehen. Stattdessen hatte sie die Arme verschränkt, als benötige sie Schutz, und begriffen, Richard musste die Wahrheit zugemutet werden, gerade ihm: »Weil es richtig war, dass ich gegangen bin.« Der Satz hatte ihrem Sohn die Luft verschlagen. Seine rechte Faust war in die Höhe geschnellt, als wolle er sie schlagen, und sie hatte, was sie beschämte, gedacht: »Ist er nicht Linkshänder?« Er hatte die Faust geöffnet und den Arm fallen gelassen. Sie konnte verstehen, dass er sie verabscheute oder sogar hasste, gleichzeitig wäre ihr Sohn, wenn er ihr hätte verzeihen können, in ihrer Achtung gestiegen. Die Verachtung in den Augen ihrer Schwiegertochter hatte sie irritiert und verletzt. »Sie kennt mich doch gar nicht«, war der Satz, den Roberta danach wochenlang nicht mehr aus dem Kopf bekommen hatte. »Ich hasse deine unerschütterliche Hingabe an das, was du für richtig hältst. Dein starker Wille ist entsetzlich, weil er auf andere Menschen keine Rücksicht nimmt!«

Weitere Kostenlose Bücher