Wald aus Glas: Roman (German Edition)
ungeduldigen, aufbrausenden Vater, der alles besser wusste und sich nur selten wie jemand verhielt, der mit sich und seinem Leben zufrieden war, obschon er genau das stets behauptete.
»Fahr du mit Paps nach Wien, Ayfer, dann zieh ich zu deinen Verwandten!«
»Quatsch«, sagte ihr Vater noch einmal und stand auf, »du hältst es ohne mich doch eh nicht aus, Anni!«
»Blablabla!«
»Keinen Tag!«
»Ich will trotzdem hierbleiben. Bei Ayfers Verwandten.«
Ayfer dachte an das Handy im Seitenfach ihrer Tasche, die neben ihr am Boden lag, dachte an Davors Augen, seine Mädchenfinger. Er hatte nicht abgehoben, nicht bei ihrem zweiten, dritten und vierten Versuch. Und zurückgerufen hatte er sie, die mit angezogenen Beinen an den Spülkasten gelehnt auf dem Toilettenring saß und die Geräusche aus den anderen Kabinen und das Gelächter und Getuschel vor den Waschbecken auszublenden versuchte, ebenfalls nicht.
»Mein Vater will mich zwangsverheiraten.«
Die Lüge kam Ayfer ohne Vorsatz über die Lippen, ohne dass sie sich die Gelegenheit gab, sich auszumalen, was sie auslöste. Ihr Satz war ungeheuerlich, das war ihr bewusst. Ungeheuerlich, aber unvollständig. Ihr Satz klang wie eine Erfindung, eine Lüge.
»Mit einem Mann, der dreißig Jahre älter ist«, fügte sie hinzu.
Es war bestimmt falsch, den Blick gesenkt zu behalten. Sie hatte sich ihnen offenbart, nun mussten die beiden sie ansehen. Wenn jemand sie durchschaute, dann Annika; sie musste wissen, wie man wirkungsvoll lügt. Ihr Vater hatte das ziemlich sicher verlernt oder vergessen.
»Und deine Mutter«, fragte er, »weiß die Bescheid?«
Ayfer nickte. Annika sah sie prüfend an, die Hände zusammengelegt wie eine Betende. Sie hatte den Kopf leicht schräg gelegt, sie sah stark aus, durch nichts zu beeindrucken. Ayfer konnte den alten Mann vor sich sehen, ihren erfundenen Bräutigam, gramgebeugt, mit großem Schnauzer, eine Mütze in den schwieligen Pranken.
»Und sie ist einverstanden damit?«
»Meine Mutter hat nichts zu sagen.«
Und sie ist feige, dachte Ayfer, feige und verloren, sprach es aber nicht aus, um ihre Mutter vor ihren Lügen zu schützen und auszunehmen.
»Darum bist du abgehauen.«
Annikas Feststellung bot Ayfer Schutz, sie konnte sich dahinter zurückziehen, verbergen. Sie wollte ihr einen dankbaren Blick zuwerfen, doch Annika hatte ihr Kinn mit geschlossenen Augen auf die Knie gelegt. Ihr Vater, der sich über den Grill beugte, hustete und trat einen Schritt zurück. Hinter dem Maschenzaun, der die Raststätte abgrenzte, ging eine Wiese in einen Wald über, in dem bis eben noch die einzelnen Stämme zu erkennen gewesen waren. Dafür war es nun zu dunkel; der Himmel, von roten Schlieren gesträhnt, schien auf den Wipfeln aufzuliegen. Angst, richtige Angst vor Davor hatte Ayfer erst einmal gehabt, als sie mit einem seiner Freunde gelacht und sich einen Augenblick an ihn gelehnt hatte, als wolle sie ihn küssen, übermütig und spielerisch, angetrunken, weil sie es nicht gewohnt war, Alkohol zu trinken. Davors Faustschlag, der den Jungen von den Beinen holte, kam aus dem Nichts, ein Blitz aus heiterem Himmel.
»Futschikato!«
Annika sprang auf die Beine und sah sie endlich an, blinzelnd, ohne eine Miene zu verziehen. Sie ist meine Komplizin, dachte Ayfer, trotzdem habe ich sie belogen. Sie blieb mit zusammengepressten Knien auf dem Klappstühlchen sitzen, die Hände auf den Oberschenkeln, die Büßerin mit dem schlechten Gewissen.
»Wir können sie jedenfalls nicht hier zurücklassen«, sagte Annika und schmiegte sich an ihren Vater.
Annikas Vater ließ zu, dass seine Tochter ihn manipulierte, er musste es begreifen; es war, als sehe Ayfer sich selber zu, sich und ihrem Vater, in der Küche ihrer Mietwohnung, wo sie immer landeten, wenn sie ihre Kämpfe ohne Zuschauer austragen wollten, in der Küche bei geschlossener Tür. Irgendwie brachte Ayfer ihren Vater dann jedes Mal so weit, dass sie ihren Willen durchsetzen konnte. Allerdings gelang ihr das nur bei letztlich unwichtigen Dingen.
»Wir sind ja schließlich keine Unmenschen, oder doch, Paps?«
»Hast du deinen Pass dabei, Ayfer?«, fragte Annikas Vater. Er machte sich von seiner Tochter los und ging vor dem Grill in die Knie.
11
Sie öffnete den Reißverschluss am Eingang ihres Zeltes und blickte auf den See hinaus. Sie hatte fast zwei Stunden geschlafen, Prinz auf seiner Decke ausgestreckt neben sich, nun war ihr schwindlig und unwohl. Der Campingplatz lag auf einer
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