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Wald aus Glas: Roman (German Edition)

Wald aus Glas: Roman (German Edition)

Titel: Wald aus Glas: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hansjörg Schertenleib
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Richards Stimme hatte gezittert. Sollte sie ihm vom schlechten Gewissen erzählen, das sie jahrelang geplagt hatte? Aber dann musste sie ihm auch die Erleichterung gestehen, die sie empfunden hatte, als sie damals ohne Vorwarnung weggegangen war, Erleichterung, weil sie sich von einem Gewichterlöste, das sie daran hinderte, sich zu bewegen. »Gehen Sie endlich weg!« Die Aufforderung von Richards Frau vor zwölf Jahren hatte Roberta beeindruckt. Sie hatte ihren Sohn angeschaut, um sich sein feistes, vor Wut entstelltes Gesicht einzuprägen. Dann war sie gegangen.
    Roberta schlenderte mit ihrem Hund durch Rapperswil, als sei sie auf einem Ausflug und wie die meisten Besucher der Stadt auf dem Weg von der Seepromenade zu den verschiedenen Treppen, die aus den Gassen der Altstadt zum Schloss über den Dächern hinaufführten. Sie hatte sich den Weg zum Laden ihres Sohnes auf dem Plan im Internet gemerkt, ihr war bewusst, sie machte Umwege und schob die Begegnung hinaus, vor der sie Angst hatte. Prinz ging den Leuten, denen sie begegneten, aus dem Weg, auch Kindern, die ihn streicheln wollten. Der Regen hatte aufgehört, am Himmel über den zwei Türmen des Schlosses hingen violette Wolkenbänder, die sich bewegten, als flatterten sie in einer Brise, die nur dort oben wehte, hoch über ihnen, Fahnen aus Luft.
    Sie fühlte sich müde, weniger vom fehlenden Schlaf der ersten Nacht im Zelt als von dem, was sie erwartete. Aber da sah sie, dass sie in der richtigen Gasse standen, am Fuß der Mauer, hinter der steil der Schlosshügel anstieg. Es roch nach Pizza, Prinz’ Krallen kratzten über das Pflaster. Zwölf Jahre hatte sie ihren Sohn nicht gesehen. Sie hatte nicht jeden Tag an ihn gedacht, nicht einmal jeden dritten. Aber es hatte eine Zeit gegeben, da hatte sie Tag für Tag daran gedacht, wie sie am 14. August 1980 die Tür der Wohnung hinter sich zugezogen und den Mietblock am Rand von Rapperswil verlassen hatte, um sich mit ihren zwei Koffern aus Lederimitatauf den Weg zur Busstation zu machen. Aber irgendwann war selbst das zu einem Teil ihrer Lebensgeschichte geworden, zu einem Teil von ihr, und sie hatte aufgehört, daran zu denken. Die Erinnerung daran war in ihr versiegelt, gehörte zu ihr wie eine Narbe, ein Muttermal. Geblieben war die Gewissheit, dass es richtig gewesen war, da mochten die anderen mit den Fingern auf sie zeigen und höhnen, was für eine schlechte Mutter sie sei, eine Rabenmutter, abgrundtief verdorben, krank. Was sie vor diesen Vorwürfen rettete, war das Wissen, sie hatte auch gegen sich selbst kein Mitleid gezeigt und war nicht aus Angst davor, allein oder sogar einsam zu sein, in einer Situation geblieben, die ihr die Luft abwürgte. Wie einfach es letztlich gewesen war, das Undenkbare zu denken, wie leicht, das Schwere zu tun! Sie brauchte nur zu akzeptieren, dass sie die Konsequenzen dafür für den Rest ihres Lebens tragen musste. Die meisten Menschen, die sie kannte, lebten, als zöge nichts Konsequenzen nach sich, als hätte nichts Folgen. Roberta hatte schon als junge Frau begriffen, dass das nicht stimmte. Alles, was man machte, hatte Folgen. Alles, was man in seinem Leben tat, fiel auf einen zurück. Etwas aus diesem Grund nicht zu tun, war falsch, zumindest aus ihrer Sicht. Sich selbst zu sehen, wie man wirklich ist, war eine Lebensaufgabe, hatte sie an jenem Tag begriffen, als sie die Wohnungstür hinter sich zuzog. Hatte es ihr geholfen, dass sie nicht an Gott glaubte?
    Das Geschäft ihres Sohnes lag am Ende der Gasse in einem hohen schmalen Haus, dem Häuschen aus dem Märchenbuch. Müde bin ich, geh zur Ruh! Der blaue Putz und die rot gestrichenen Holzläden gaben dem Haus tatsächlich etwas putzig Verwunschenes. GERBER - MODELL-EISENBAHNEN - MÄRKLIN UND FLEISCHMANN .Roberta blieb vor dem Schaufenster stehen und betrachtete die Auslage. Vor einer weißen Stoffbahn, die den Blick in den Verkaufsraum unmöglich machte, war ein kurzes Schienenstück zusammengesteckt, auf dem eine rote Lokomotive, zwei grüne Personenwaggons und das rote Zugrestaurant standen. Sonst war das Schaufenster leer. Krokodil. Nie hätte sie den Namen der Lokomotive vergessen können, immerhin war sie der Stolz der Eisenbahnanlage ihres ehemaligen Mannes gewesen. Krokodil. Be 6/8. Sie sah Herbert vor sich: Die rote Lok in der Hand, das Gesicht erhitzt vor Glück, kniete er in seinem blauen Überkleid vor der Gleisanlage, die im zweiten Kinderzimmer aufgebaut war, und stellte eine Zugkomposition

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