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Wald aus Glas: Roman (German Edition)

Wald aus Glas: Roman (German Edition)

Titel: Wald aus Glas: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hansjörg Schertenleib
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gleich wieder hoch.
    »Ja«, sagte er, »hab ich.«
    »Und was?«
    »Etwas, für das ich mich so schäme, dass ich es keinem erzähle.«
    Sein Lachen klang unecht. Wenn sie einatmete, spürte Roberta ihre Rippen, wenn sie den Kopf drehte, ihren Nacken. Sie fing an, die Zehen in den neuen Schuhen auf und ab zu bewegen.
    »Meiner hat auch so gerochen«, sagte der Mann und strich Prinz mit flacher Hand über die Flanke.
    »Stinkt er?«
    »Das ist normal, dass man selber nichts mehr riecht. Eine Tante von mir hat zwölf Katzen oder so, Siamesen, Angora, Karthäuser, die ganze Katzenpalette. Der Gestank in ihrer Wohnung haut dich um. Unglaublich! Aber sie riecht nichts. Kein bisschen.«
    »Stinkt er?«, fragte Roberta noch einmal und brachte ihr Gesicht in die Nähe von Prinz’ Fell.
    »Blödsinn! Er stinkt nicht, er riecht nach Hund. Genau wie meiner.«
    Sie überholten einen Lastwagen mit Anhänger, und während sie auf gleicher Höhe mit ihm waren, wurde es in ihrer Kabine dunkel. Wind riss welke Blätter von Bäumen am Rand der Autobahn und trieb sie über die Fahrbahn. Stromleitungen glänzten, schwangen sich durch Wiesen und erinnerten Roberta an die Wäscheleine hinter ihrem Elternhaus, an die Tropfengirlanden an den Leinen, die sacht im Wind geschaukelt hatten.
    »Haben Sie das Zelt schon einmal aufgebaut?«
    Sie nickte. Einige der Berge, die am anderen Ufer wie eine Wand in den Himmel wuchsen, als markierten sie kalt und abweisend das Ende der Welt oder zumindest eine Grenze, hinter der alles anders war, einige dieser Berge, die sie als Kind an ein geblecktes Gebiss erinnert hatten, waren jetzt frei von Wolken. Ihre von Gerölladern gefurchten Felswände standen im weichen Abendlicht, während die wenigen Häuser unten am Ufer bereits im Schatten lagen, genau wie die Hälfte des Sees.
    »Soll ich Sie nun an den Campingplatz in Murg bringen, von dem ich Ihnen erzählt habe? Oder wollen Sie mit bis Walenstadt?«
    »Der Campingplatz liegt am See?«
    »Direkt am See, ja.«
    Sie bogen auf die Ausfahrt und fuhren unter der Autobahn hindurch; auf einem Stoppschild saß ein Mäusebussard, der sich auch nicht in die Luft erhob, als sie neben dem Schildanhielten. Der Raubvogel bewegte seinen Kopf ruckartig hin und her, Wind sträubte seine Schwanzfedern.

10
    Das Klappstühlchen, auf dem Annikas Vater saß, stand so dicht ans Heck seines Lastzuges gerückt, dass er sich mit dem Rücken dagegen lehnen konnte. Er schnitzte mit einem Messer an einem Ast herum, von dem sich die Rinde in langen, weichen Spänen löste. Das Holz, das sich darunter zeigte, war weiß wie das glattgeschliffene Schwemmholz, das Ayfer am Strand von Sile gefunden und in ihrem Zimmer auf den Fenstersims gelegt hatte.
    Annika hatte sich umgezogen. Sie trug jetzt ein geblümtes Kleid, hatte aber immer noch die schweren Stiefel an den Füßen. Sie lehnte mit angewinkelten Beinen am einzigen Baum im verdorrten Wiesenstreifen, den Kopf zur Seite geneigt. Es sah aus, als wolle sie mit dieser Körperhaltung etwas ausdrücken. Nur was? fragte sich Ayfer, die auf dem zweiten Klappstühlchen saß. Die Knochen an Annikas Handgelenken stachen spitz hervor, und Ayfer dachte an die Hitze, die von ihrem Körper ausgegangen war, als sie sich an sie gedrückt hatte.
    »Also ich würd gern für immer hier leben«, sagte Annika.
    Ayfer hatte ihnen erzählt, dass sie getürmt war, weil ihre Eltern sie gegen ihren Willen zu ihrem Onkel und ihrer Tante in die Türkei geschickt hatten.
    »Ich nicht«, sagte Ayfer.
    »Ich schon«, sagte Annika.
    Ihre Stimme klang keine Spur rechthaberisch, sondern so, als mache sie einen Vorschlag, über den es sich lohnte, nachzudenken. Sie strich sich die Haare aus dem Gesicht und sah dabei jung aus wie ein Kind. Ihre Hände waren geöffnet, als wollte sie etwas präsentieren, das Ayfer einfach nicht sehen wollte.
    »Aber nicht, wenn ich es dir befehlen würd«, sagte Annikas Vater.
    Er stand auf und kniete vor dem Grill nieder, um sich um die Spieße zu kümmern, die er vor einer Weile auf den Rost gelegt hatte.
    »Doch«, sagte Annika, »in der Türkei würd ich sogar bleiben, wenn du es mir befehlen würdest!«
    »Quatsch!«
    Ihr Vater lachte. Er wirkte gelassen und selbstvergessen wie jemand, der weiß, das Leben ist kostbar und soll doch großzügig verbraucht werden. Seine Haare waren strohig und verbleicht, als habe er Wochen in Sonne und Meer verbracht; die Jeans, die er trug, waren voller Risse und Flecken. Ayfer dachte an ihren

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