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Wald aus Glas: Roman (German Edition)

Wald aus Glas: Roman (German Edition)

Titel: Wald aus Glas: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hansjörg Schertenleib
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zusammen, die er bald auf die Reise durch die verschlungenen Schienen mit ihren Brücken, Tunnels, Weichen und Bahnübergängen schicken würde.
    Sie hatte, begriff Roberta plötzlich, keinen Bedarf nach Richards Vorwürfen und den Anfeindungen seiner Frau. Sie wollte sich nicht rechtfertigen, nicht einmal erklären wollte sie sich. Es war konsequent, noch einmal zu gehen. Du verlierst deinen Sohn nicht heute, du hast ihn am 14. August 1980 verloren. Und du wirst ihn nicht wieder zurückgewinnen, nie mehr. Verbitterung, Schmerz, Hass, Ablehnung. Genug davon! War es nicht ein Zeichen dafür, dass es zu Ende ging mit einem, wenn man anfing, Dinge in Ordnung zu bringen, aufzuräumen?
    »Komm Prinz«, sagte sie, »wir gehen.«

8
    Alle Zapfsäulen waren besetzt, die Gesichter der Männer, die an der Kasse anstanden, wirkten im Licht des Shops erschöpft, wie Masken. Es dämmerte, viele Fenster der Hochhäuser an der Autobahn waren beleuchtet, Autos und Lastwagen fuhren mit Licht. Über dem Eingang des Shops schwebte ein Mückenschwarm, der jedes Mal, wenn sich die Glastür auf- oder zuschob, auf einen Schlag zerstob, um gleich darauf als schwarze Wolke wieder aufzutauchen. Ayfer ging zwischen den Zapfsäulen und Autos mit offenstehenden Türen herum, aber sie fand nicht den Mut, jemanden zu fragen, ob sie mitfahren dürfe. Eine Leuchtstoffröhre unter dem Dach der Tankstelle sirrte laut, und sie ging bald auf den angrenzenden Parkplatz hinüber, weil sie das Geräusch störte. Männer standen in Gruppen zusammen, rauchend und streitend, aus Kofferradios plärrte Musik. Die Stimmung, die über der Raststätte lag, bedrückte sie. Sie schaute verstohlen in offene Kofferräume, wich Männerblicken aus, reagierte weder auf Bemerkungen noch auf Fragen. Auf einer Wiese waren Decken ausgebreitet, Frauen mit Kopftüchern saßen zusammen, Kinder in ihrer Mitte, die Mädchen ebenfalls verhüllt. Sechs Männer spielten auf der Motorhaube eines Mercedes Karten, auf dem Dachträger war ein Berg von Koffern und Kisten festgezurrt. Einem Mann war das Hemd aus der Hose gerutscht, der Hautstreifen war mit entzündeten Pusteln übersät. Ein Stück entfernt kauerten zwei Frauen – auch sie trugen Kopftücher – vor einem Grill; die Rauchsäule stieg kerzengerade in die Höhe, ein schwarzer, mit dem Lineal gezogener Strich, es roch nach Lammfleisch. Ayfer spürte erstjetzt, wie hungrig sie war. Sie hatte den ganzen Tag nichts gegessen und nichts getrunken.
    »Ich hasse Filme, in denen sie auf Pferden reiten!« Ayfer hätte beinahe gelacht, als Davor ihr das erzählt hatte, nur sein ernstes Gesicht hatte sie daran gehindert. »Dabei liebe ich Pferde. Aber ich will keinen Film sehen, in denen Schauspieler auf ihnen reiten! Das macht mich irgendwie fertig!« Selbstverständlich hatte Ayfer sich gefragt, was das bedeutete. Sie hatte sich noch nie überlegt, ob es etwas gab, das sie in Filmen grundsätzlich nicht ausstehen konnte. Filme, in denen Männer weinten und sich danach dafür entschuldigten? Filme mit Beerdigungen in greller Sonne? Sprechende Tiere oder Autos? Alte, die wie Teenager redeten? Ihr war nichts eingefallen; sie hatte eine Weile lang so sehr darauf geachtet, irgendetwas zu finden, das sie grundsätzlich nicht mochte, dass sie die Geschichten der Filme nicht mehr mitbekommen hatte.
    Die beiden Frauen nahmen die Lammstücke vom Grill, luden sie auf Pappteller und trugen sie zu den Männern am Mercedes hinüber; dann legten sie Kohle nach und warfen neues Fleisch auf den Rost. Was ist der Unterschied zwischen Traurigkeit und Einsamkeit? Die Männer machten sich über das Essen her, ohne die Frauen auch nur eines Blickes zu würdigen; ihre fettverschmierten Finger und Lippen erinnerten Ayfer an ihren Onkel, und sie ging wieder zur Tankstelle hinüber.
    Bevor sie den Shop betrat, sah sie sich die Kunden, die durch die Regalgänge gingen, genauer an, verborgen hinter einer Zapfsäule. Ihr Onkel musste alles daransetzen, sie zu finden. Ayfers Vater würde es seinem Bruder niemals verzeihen, dass er es nicht geschafft hatte, auf sie aufzupassen, diesich in der Schweiz mit einem Jungen eingelassen hatte, dessen Familie an den falschen Gott glaubte.
    Der Benzingeruch trieb Ayfer Tränen in die Augen, und sie betrat den Shop. Im Einkaufskorb, den sie aus dem Stapel hob, lagen ein braun verfärbtes Salatblatt und ein Zettel, auf dem zwei Worte standen, muz und buz, Banane und Eis, geschrieben mit Filzstift. Ayfer ging schnell durch

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