Wald aus Glas: Roman (German Edition)
einzuprägen, weil es ihr später einmal helfen würde, wenn sie an der Reihe war, diese Welt zu verlassen. Das Ehebett war nicht bezogen gewesen, die blau gewürfelte Matratze hatte einen großen Fleck gehabt. Die Dielenbretter hatten geglänzt, als seien sie mit flüssigem Honig bestrichen, auf der Wand hinter dem Bett war ein Sonnenmal erschienen, eine zitternde Raute, die sich langsam seitwärts verschob und schließlich genausoerlosch wie der sandfarbene Lichtquader auf dem Schrank. Da hatte Ayfer die Tür ins Schloss gedrückt und war leise und mit angehaltenem Atem durch den Flur gegangen und aus dem Haus in die warme Abendsonne hinausgetreten und auf dem knirschenden Kies des Vorplatzes zur Schaukel hinübergelaufen, die ihr Großvater vor vielen Jahren für sie in den Apfelbaum gehängt hatte. Sie hatte sich darauf gesetzt, das erste Mal seit langer Zeit, und angefangen zu schaukeln, hoch und höher, bis sie jauchzend durch die Luft flog und über die Büsche weg aufs Meer hinausblickte. Am nächsten Tag waren sie zurück in die Schweiz gereist, lang vor Ende der vierzigtägigen Trauerzeit. Ihr Vater hatte damals noch bei Chocolat Frey am Band gearbeitet, ihre Mutter war kurz zuvor von einem Reinigungsunternehmen in Buchs eingestellt worden, das einem Türken gehörte, der auch aus Amasra stammte und für den sie an zwei, manchmal drei Abenden Büros und Arztpraxen putzte. Und Ayfer schwebte hin und her, der Ast, an dem die Schaukel hing, ächzte, sie flog, flog und blieb doch an Ort und Stelle, ein Mädchen im Garten ihrer türkischen Großeltern, jauchzend und doch zu Tode betrübt, flog und flog, mitten in die Regenwand, die sich vom Schwarzen Meer her aufs Land zuschob.
Der Regen klopfte auf das Dach des Fahrerhauses, fein, aber beharrlich, als werde mit winzigen Hämmern gearbeitet, Pling, Pling, Pling, Dellchen um Dellchen, auf der Fahrt an die Oberfläche, ins Licht.
»Aufwachen«, sagte Annika und rüttelte an ihrem Arm, »wir sind bald in Wien, wach auf!«
19
Lichtblitze sprangen im Takt der schlagenden Achsen über Scheiben und Gesichter, der Zug rumpelte über Stellweichen und warf die Fahrgäste, die wie Roberta und ihr Hund noch keinen Platz gefunden hatten, gegen Armstützen und Lehnen der Sessel, an denen sie vorbeigingen.
Die Gesichter der sitzenden Fahrgäste waren abweisend, feindselig. Sie starrten in Magazine, ohne zu lesen, blickten angespannt in die vorbeifliegende Landschaft hinaus oder wühlten in Reisetaschen. Auf einigen Sitzen standen Handtaschen, auf anderen lagen Bücher oder Zeitungen; vor einigen dieser Plätze blieb Roberta stehen, als müsse sie Atem schöpfen und nicht etwa als stumme Aufforderung, den Sitzplatz frei zu machen, dann ging sie weiter. Die Gurte ihres Rucksacks knarrten leise. In der Glastür am Ende des Waggons sah sie sich plötzlich gespiegelt, eine alte Frau in einer Gore-Tex-Jacke, einen Rucksack auf dem Rücken, wie ihn sonst nur Bergsteiger oder Tramper tragen, eine weißhaarige alte Frau in Wanderstiefeln und Kordhosen, die an kurzer Leine einen Hund mit sich führte, da glitt die Glastür zur Seite.
Der nächste Wagen, durch den sie ging, war besetzt von einer lauten Reisegruppe; die Männer und Frauen trugen Schweizerfähnchen als Anstecker und ließen Schnapsfläschchen herumgehen, mit denen sie sich zuprosteten. In der Mitte des Wagens veränderte sich das Fahrgeräusch, es wurde heller, fast schrill. Roberta hob den Blick und sah, dass der Zug durch Schallschutzwände raste wie durch einen Tunnel. Eine Frau in ihrem Alter saß inmitten der Reisegruppe, als gehöre sie nicht dazu. Die Hände im Schoß, drehte sie gedankenverlorenan einem Goldring an ihrem Ringfinger. Prinz zog Roberta weiter, er mochte laute Menschen nicht.
Dass sie in der ersten Klasse standen, wurde Roberta erst bewusst, als ihr die Stille auffiel. Selbst das Fahrgeräusch schien abgedämpft, als gleite der Zug in zugeschneiten Schienen durch eine Welt ohne Ton, ohne Klang. War es nicht höchste Zeit, das erste Mal in ihrem Leben Erste Klasse zu fahren? Auch hier waren die meisten Sitzplätze belegt, aber schließlich bemerkte sie eine etwa fünfzigjährige Frau, die allein an einem Vierertisch saß, einen aufgeklappten Laptop vor sich. Die Frau blickte einen Lidschlag lang hoch, als Roberta vor ihr stehenblieb, nickte und schob einen schwarzen Füller, zwei Handys und eine Mappe voller Papiere beiseite, um auf dem Tisch Platz zu schaffen. Roberta hängte ihre Jacke auf,
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