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Wald aus Glas: Roman (German Edition)

Wald aus Glas: Roman (German Edition)

Titel: Wald aus Glas: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hansjörg Schertenleib
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getroffen, sagte sie sich, nicht am Kopf, im Genick, das Schwein. Hatte der Mann Kinder? Eine Frau? Lebten seine Eltern noch?
    »Sind wir schon in Ungarn?«, fragte Ayfer.
    »Sind wir, ja. In zwei Stunden fahren wir an Budapest vorbei.«
    »Ich schlafe noch«, sagte Annika und kniff Ayfer in die Wange.
    »Das ist gut, Anni. Leg dich auch noch ein wenig hin, Ayfer. Es ist noch früh.«
    Sie ließ sich auf die Matratze sinken, brachte es aber nicht fertig, die Augen zu schließen.
    »Willst du wissen, wie der Energiedrink in Ungarn heißt?«, flüsterte Annika.
    Ayfer gab keine Antwort. Die Landschaft, die vor den Fenstern vorbeizog, war grau, das diesige Licht gab noch keine Details preis, kein Haus, keinen Baum, die Landschaft war ein Raum ohne Grenzen, ohne Ende, eine Bühne für ein finsteres Stück, ein Raum, in dem man sich verlor, sobald man die Obhut der Autobahn verließ, die sicher auf ein Ziel hinführte.
    »Semtex!«
    »Und?«
    »Das ist ein Sprengstoff«, flüsterte Annika, »komm, schlaf, es nützt nix, wenn du dran denkst.«
    »Sobald ich die Augen zumache, seh ich ihn«, flüsterte Ayfer, »er ist bestimmt tot.«
    »Vielleicht ist er tot, ja. Ein Scheißkerl weniger. Sei stolz drauf.«
    »Du bist krank.«
    »Ich bin krank! Und ich bin deine Freundin. Vergiss das nicht! Jetzt schlaf!«
    Ayfer ließ den Kopf gehorsam aufs Kissen sinken und legte sich die Hand vor die Augen. Annika drückte sich an sie, ließsie aber los, als sie Ayfers angespannten Körper und ihre Ablehnung spürte. Ihre Füße berührten sich, ihre Hüften ebenfalls.
    »Hast du schon mal an einem Männerhut gerochen, innen drin, meine ich, am Hutband oder wie das heißt?«
    Annikas Flüsteratem roch nach dem Red Bull, das sie sich vor der Abfahrt geteilt hatten. Ayfer schüttelte den Kopf.
    »Das war das Einzige, was mir an Großvater gefallen hat. Der Geruch in seinem Hut. Nach Abenteuer, nach Urwald und Wüste. Dabei ist er nie aus Linz hinausgekommen, sein ganzes Leben nicht.«
    Ayfers Großvater Bekir hatte nie Hüte getragen, sondern schwarze Wollmützen; einmal hatte sie tatsächlich heimlich daran gerochen, sie hatte die Mütze umgedreht und ihre Nase in die Wolle gedrückt, aber der Geruch hatte sie weder erstaunt noch verblüfft. Tabak, Erde und Hund.
    Annikas Vater drehte das Radio lauter, sein hydraulischer Sessel zischte, schnaufte, ächzte. Die ungarischen Stimmen und das Motorengeräusch schläferten Ayfer so weit ein, dass sie sich entspannen konnte. Annikas Vater hatte damit angefangen, die Nationalitäten der Wagen zu murmeln, von denen sie überholt wurden. »Bulgarien. Bosnien. Griechenland. Mazedonien. Italien. Griechenland. Türkei. Deutschland. Polen. Ungarn. Österreich.« Eine endlose Litanei, die ihn beruhigte, wie ihr Annika erklärt hatte. »Manchmal macht er es sogar zu Hause, wenn er am Küchentisch sitzt, plötzlich fängt er damit an, dann sitzt er wieder hinter dem Steuer und fährt.« Es war schwierig, das Geräusch des eigenen Atems zu ignorieren. Die Hornsignale der Lastzüge klangen wie Schiffssirenen durch die Morgendämmerung, ein trauriges, sehnsüchtigesTuten, Wehklagen. Die meisten Lastwagen hatten Reihen von Halogenscheinwerfern auf den Fahrerhäusern, Lichterketten, die um die Frontscheiben liefen. Ayfer dachte an Davor, sah seine Augen vor sich, seine Oberarme, auf die er stolz war, sie sah ihren Bruder, ihre Mutter, Bild um Bild, während Regen über das Dach ihres Fahrerhauses klopfte und die Reifen mit einem Mal hell sirrten, weil die Fahrbahn nass war und die Brems- und Rücklichter überholender Autos spiegelte, wie sie nach einem Kontrollblick feststellte, bevor sie erneut wegdämmerte und sich auf die Suche nach ihrer Familie machte, schläfrig und unstet und gleichwohl entflammt für das bislang größte Werk ihrer Einbildungskraft und ihrer Wünsche: ihre Familie. Nach Nurays Tod hatte Ayfer das Schlafzimmer ihrer Großeltern, ihr Sterbezimmer, nicht mehr betreten; einmal hatte sie die Tür aufgestoßen, war aber auf der Schwelle stehengeblieben, weil sie die Stille, die den Raum beherrschte, erschreckte. Auch der Geruch, der ihr in die Nase gestiegen war, war ihr unangenehm gewesen. Das Zimmer ist tot, hatte sie gedacht, tot wie Nuray, ich darf es auf gar keinen Fall betreten, weil es mir die Luft aus dem Leib saugen wird, das Blut, das Leben. Ich werde zur Larve, vertrocknen werde ich, verkümmern. Sie hatte sich den Raum angesehen, als sei es wichtig, sich jedes Detail

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