Wald aus Glas: Roman (German Edition)
Kopf hatte sie geliebt. Wie viele der Zimmer im»Blauen Eber« wohl belegt waren? Leopold hatte damals ein großes Zimmer mit einem Erker bewohnt, der auf die Adamgasse hinausging. »Es ist, als sitze ich in einer Glaskanzel im Himmelzelt, wenn ich abends nach der Uni am Erkertisch sitze, studiere und an Dich denke, mein Augenstern, ach könnte ich doch fliegen, fliegen zu Dir, mein Herz«, hatte Leopold in seinem zweiten Brief an sie geschrieben. Roberta zog die Decke bis unters Kinn, beide Hände auf dem schlaffen Päckchen ihres Bauches, und nickte ein.
18
Nuray beugte sich über sie, wachsblass und jung und schön, Ayfer zu küssen und damit zu erlösen, zu holen, Ayfer, die im letzten Augenblick den Kopf zur Seite drehte, und dem Kuss entging, da sie die Eiseskälte spürte, die ihr die Großmutter mit zartem Fauchen einhauchen wollte. Kedi uzanamayan ete, kokmus dermis. Die Stimme der Großmutter ist ein Hauch, mehr nicht, eine Ahnung, »die Katze, die an das Fleisch nicht herankommt, sagt, es sei verdorben«.
Ayfer öffnete die Augen. Annikas Gesicht schwebte so dicht über ihr, dass sich ihre Nasen um ein Haar berührten. Annika legte ihr den Zeigefinger auf die Lippen, sie war hellwach. Der Finger roch nach Seife. Das Bild der toten, in den Kefen gewickelten Großmutter war Ayfer monatelang jeden Tag erschienen, Nuray hatte in der Stube gelegen, gewaschen von der eigenen Tochter, von Ayfers Mutter, verknotet imweißen Tuch, eine Figur aus der Dunkelheit böser Träume. Das ist sie nicht, nein, das kann, das darf sie nicht sein, meine Großmutter, hatte Ayfer gedacht und war aus dem Haus gerannt, hinaus in die Hitze eines Tages, der aussah wie der Tag davor, und, wie sie bald begriff, der Tag danach. Weder an das Totengebet noch an das Totenmahl hatte sie eine Erinnerung, nichts, kein Bild und keinen Geruch, kein Wort, es war, als hätte beides niemals stattgefunden, nur dass sie und die Trauergäste drei Tage lang lokma gegessen hatten, Krapfen, und kadayif, Süßgebäck. Das Bild der toten, ins Leichentuch gewickelten Großmutter erschien ihr bis heute. Jetzt gab es ein neues Bild, das sie bedrängte, das sie störte, dem sie nicht würde entgehen können. Sie hatte einem Mann einen Stein, einen glatten, schweren Stein ins Genick gehauen, mit ganzer Kraft. Vielleicht hatte sie einen Mann getötet. Zum Krüppel gemacht, zum Behinderten. War er gefunden worden? War er tot? Lag er im Krankenhaus oder hinter dem Bretterverschlag in der kalten Asche? Er hatte gestöhnt, als sie weggelaufen waren, ohne sich zu bewegen, sie hatte sich den Stein von Annika aus der Hand nehmen lassen, die ihn schwungvoll im Brennnesselmeer versenkte. Hatte der Mann geblutet? War der Stein voll Blut gewesen?
Annika presste Ayfer den Zeigefinger auf die Lippen, dann zog sie ihn zurück und setzte sich rittlings auf sie. Ihre Stirn glänzte, die Haut an ihren Beinen war heiß und feucht vor Schweiß.
»Du hast mir das Leben gerettet«, flüsterte sie und drückte Ayfer einen Kuss knapp neben den Mund, »danke.«
»Meinst du, er ist tot?«
»Und wenn schon!«
Ayfer wand sich hin und her, um Annika abzuschütteln, die sich dagegen wehrte, nach einer Weile aber nachgab, von ihr rutschte und sich neben sie legte, dicht genug, damit sie sich berührten. Sie waren vor fast fünf Stunden losgefahren, drei Lastzüge gleichzeitig, Fahrer, die Annikas Vater nicht kannte, ein Konvoi, der zusammen durch die serbische Nacht fuhr. Oder waren sie schon in Ungarn? Das Geräusch des Motors beruhigte Ayfer, es würde ihr fehlen, genau wie die Erschütterungen und die Tatsache, dass Annikas Vater am Steuer saß und sie sicher durch die unbekannte Landschaft fuhr.
»Was wollte der Scheißkerl?«
»Was wohl?«, gab Annika zurück, ohne ihre Stimme zu dämpfen.
Sie hörten das Zischen des hydraulischen Fahrersessels, Annikas Vater machte das Radio noch eine Spur leiser, eine Dose knackte, er schluckte. Ayfer lehnte sich aus der Schlafkoje und sah durch die Frontscheibe das Schild einer Ausfahrt vorbeiflitzen: Szeged.
»Wach?«, fragte Annikas Vater.
Seine Stimme klang brüchig, er hatte lange nicht geredet. Er hatte keine Ahnung, was ihnen zugestoßen war, was sie getan hatten. Mittlerweile waren sie weit von der Raststätte entfernt, vom Tatort. Ayfer sah den Mann vor sich, er lag Kopf voran in der Feuerstelle, ein Bündel Knochen, zusammengehalten von Lederjacke und Tarnhose, ein Toter mit eingeschlagenem Hinterkopf. Du hast ihn im Genick
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