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Wald aus Glas: Roman (German Edition)

Wald aus Glas: Roman (German Edition)

Titel: Wald aus Glas: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hansjörg Schertenleib
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Bahnlinie stand eine einzelne Birke, deren Stamm fast schmerzhaft leuchtete. Blätter schwebten durch die Luft und fingen wie irr an zu tanzen, sobald sie in den Sog des Schnellzuges gerieten. Roberta machte die Augen zu und überließ sich dem leisen Schüttern des Zuges.

20
    Meter um Meter durch den Regen, im Schritttempo vorbei an grauen, rußgeschwärzten Fassaden, an Schaufenstern, Ladenzeilen und Garagen, Lagerhallen und Kinderspielplätzen, hoch über dem Asphalt, über Gehsteige, auf denen Fußgänger mit aufgespannten Schirmen unterwegs waren. Ein Fahrradkurier zwängte sich an ihnen vorbei, knallte schimpfend die Faust auf das Beifahrerfenster und schreckte Ayfer, die schlecht geschlafen hatte und Wien, mit der Wange gegendie Scheibe gelehnt, an sich vorbeiziehen ließ, aus ihrem Dämmer. Annikas Vater kümmerte sich nicht um den Kurier, der sich aus dem Sattel hob und mit erhobener Faust drohte, bevor er mit seinem großen signalgelben Rucksack vom Margaretengürtel in eine Seitenstraße abbog.
    »Was war denn das für ein Arschloch«, sagte Annika und lehnte sich aus der oberen Schlafkoje.
    »Die haben Stress«, sagte ihr Vater ruhig, »lass ihn.«
    Auf dem Gumpendorfer Gürtel war der Verkehr noch dichter, sie kamen noch langsamer voran, fuhren an, rollten ein Stückchen, hielten an, warteten und fuhren wieder, ein endloses Bremsen und Losfahren. Die Blätter der Scheibenwischer waren riesige schwarze Insekten, fand Ayfer, die rasch und entschlossen über die gewölbte, im oberen Fünftel getönte Frontscheibe krochen, das Regenwasser mit einem Schaben zur Seite fegten und sofort zurückkrochen, um gleich darauf aufs Neue über das Glas zu fegen, zielstrebige, unermüdliche Roboterinsekten.
    »Du könntest doch vorerst bei uns bleiben«, sagte Annikas Vater.
    Sie standen an einer Ampel, und er blickte aus dem Fenster, ohne Ayfer anzusehen, seine Stimme war leise und klang beiläufig, als habe er die Einladung gar nicht ausgesprochen. Und doch konnte Ayfer sie nicht ignorieren, sie verlangte nach einer Antwort, einer dankbaren Antwort.
    »Sicher kommt sie mit zu uns«, sagte Annika.
    Hatte Annika nicht eben noch gedöst, die Stöpsel ihres iPods im Ohr? Jetzt lag sie nicht mehr, jetzt saß sie auf der Matratze und ließ die Beine baumeln, die Handflächen dem Himmel zugewandt. Das Glöckchen am Silberkettchen umihren Fußknöchel klingelte. Frau Pfarrer, ging Ayfer durch den Kopf, die zur Messe läutet und keine Ausrede duldet.
    »Meine Eltern«, sagte Ayfer vage.
    »Deine Eltern wissen doch gar nicht, wo du bist!«
    »Eben«, sagte Ayfer, »sie machen sich bestimmt Sorgen.«
    »Da hat sie recht, Anni.«
    Ein Hund saß auf dem Gehsteig und sah Ayfer nachdenklich an; sein Fell war nass und zerzaust. Er wartete wohl auf die alte Frau, die an einem Rollator über den Fußgängerstreifen ging und dabei mit dem Schirm kämpfte, den ihr der Wind fast aus der Hand riss.
    »Schlaf dich eine Nacht so richtig aus bei uns«, sagte Annikas Vater, »ich koch was Schönes für uns, und morgen fährst du weiter in die Schweiz.«
    »Mein Bett ist weich und warm«, sagte Annika und strich ihr mit der Wade über die Wange.
    In meinem Leben ist bis vor drei Wochen nichts passiert, dachte Ayfer, nun geschieht alles auf einmal. Davor muss mir helfen, sagte sie sich, er wird mir helfen. Und meine Eltern können mich nicht verstoßen, das dürfen sie nicht, nicht, weil ich zu ihnen zurückkehren will und lieber in der Schweiz lebe als in der Türkei. Sie sah noch einmal, wie sie den Stein ergriff und hochhob, wie sie Schwung holte und, ohne zu zögern, zuschlug. Kopf voran lag der Mann in der kalten Asche, tot oder nach Atem schnappend und bloß für eine Weile außer Gefecht. Es liegt in deiner Hand, du triffst die Entscheidung, du hast dich auf den Weg gemacht, geh ihn weiter. Die Erkenntnis war simpel und von erschreckender Klarheit. Geh! Du musst gehen! Ayfer sah Annika an, weil sie hoffte, Annika könne in ihren Augen erkennen, warumsie sich entzog, warum sie gehen musste, wenn sie sich diesen Moment wieder und wieder durch den Kopf gehen ließ. Was Ayfer in Annikas Blick las, erschreckte sie. Es war der Blick eines Menschen, der weiß, er ist allein. Bin ich auf einen Schlag erwachsen geworden, fragte sich Ayfer, jetzt, da ich erkannt habe, was ihr Blick bedeutet? Sie schnappte ihre Tasche, stieß die Tür auf und sprang aus dem Laster auf den Gehsteig hinunter.
    Erst als sich der Zug in Bewegung setzte, glaubte sie,

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